Die Netzhaut
Headset herum und hätte fast die Straßenbahn übersehen, die in diesem Moment in die Henrik Ibsens gate einbog.
»Du hast mich doch wohl nicht angerufen, um mir zu sagen, dass du immer noch fluchst und andere schwere Sünden begehst«, hörte er am anderen Ende seinen Freund sagen.
Dan-Levi Jakobsen war seit der Grundschule Roars bester Freund gewesen. Als ältester Sohn eines Pastors der Pfingstgemeinde in Lillestrøm war er der geborene Außenseiter, vor allem in späteren Schuljahren. Roar selbst kultivierte als »halber Ungar« sein eigenes Außenseitertum. Erst im Nachhinein begriff er, dass sich fast jeder Schüler in Kjellervolla damals als Außenseiter betrachtete. Die meisten konnten dies überspielen, aber der Pastorensohn Dan-Levi hatte natürlich keine Chance, und auch Roar konnte seinen Nachnamen schließlich nicht leugnen. Also gründete sich ihre Verbundenheit auf einem Lebensgefühl, das sich in etwa mit »I’m black and I’m proud« beschreiben ließ. Im Grunde ihres Herzens hatten sie wohl mehr Angst davor, so zu sein wie alle anderen, als ausgestoßen zu werden.
»Ich rufe dich aus zwei Gründen an«, begann Roar. »Erstens ist es über drei Jahre her, dass wir zusammen ein Bier getrunken haben.«
In Wahrheit waren es ungefähr drei Monate. Mit Ironie versuchte Roar den vierfachen Familienvater, der eine unangreifbar glückliche Ehe mit seiner Jugendliebe Sara führte, von Anfang an in die Defensive zu drängen. Dass Sara eigentlich Roars Freundin gewesen war – jedenfalls die erste, mit der es zu mehr als ein bisschen Fummeln im Kino gekommen war –, gehörte zu den wenigen Dingen, über die sie niemals scherzten.
»I’m ready when you are, señor«, entgegnete sein Kumpel. »Außerdem bist du es doch, der sich in dieses Drecksloch, das sie Hauptstadt nennen, zurückgezogen hat.«
»Stimmt schon. Ich habe Heimweh, wenn ich nur an den Geruch des Nittelva denke.«
Nachdem er vor anderthalb Jahren aus Lillestrøm fortgezogen war, eine kaputte Ehe und einen Haufen Freunde zurückgelassen hatte, die in gewisser Weise wählen mussten, zu welchem der Ex-Ehepartner sie Kontakt halten wollten, ließ auch Roar keine Gelegenheit aus, seine alte Heimat mit Schmutz zu bewerfen. Sie hatte sich den Status einer Stadt ermogelt. Das sogenannte Zentrum war eine einzige Baustelle. Das Fußballteam bestand aus einem Haufen zerstrittener Bauern und so weiter. Keines dieser Dinge ging ihm wirklich nahe, doch es war befreiend, sie auszusprechen.
»Das war also der erste Grund«, sagte Dan-Levi, nachdem sie verabredet hatten, sich am Neujahrstag im Café Klimt zu treffen. »Und der zweite?«
»Ich habe da an ein Interview gedacht, das du vor ein paar Jahren geführt hast. Aber du musst mir versprechen, dass die Sache unter uns bleibt.«
Dan-Levi schwor es. Zwar konnte Roar nicht sehen, ob sein Journalistenfreund beim Schwur nicht doch die Finger abknickte, aber er wusste ganz genau, dass er sich auf Dan-Levi, der ihm in den Jahren auf dem Präsidium in Romerike manches Mal von Nutzen gewesen war, absolut verlassen konnte. Dan-Levi seinerseits kam hin und wieder in den Genuss geheimer Informationen, wodurch er den ein oder anderen journalistischen Coup landen konnte.
»Ich bin gerade auf dem Weg zu Tabu-Berger«, verriet Roar, »und brauche ein paar Tipps.«
»Willst du etwa andeuten, dass es eine Verbindung zwischen Berger und der toten Frau gibt, die in Hurum gefunden wurde?«
»Kein Kommentar. Überlass die Fragen lieber mir. Ich will alles über Berger wissen, seine Schwachpunke, worauf man besonders achten muss und so weiter. Ich frage, weil du ihn damals interviewt hast und Berger tief in der Pfingstbewegung verwurzelt ist. Und wer das einmal war, kommt niemals richtig davon los. Du kennst doch bestimmt Leute, die etwas über seine Kindheit berichten können.«
»Wahrscheinlich möchtest du hören, dass Berger schon als Kind psychopathische Züge hatte. Was springt für mich dabei heraus?«
»Ein Bier, vielleicht auch zwei.«
Schweigen.
»Ich werde versuchen, bis Donnerstag etwas rauszukriegen«, sagte Dan-Levi schließlich. »Und noch was: Lass dir auf keinen Fall etwas über dich selbst aus der Nase ziehen, wenn du mit ihm sprichst. Mich hat er sofort auf die Pfingstbewegung angesprochen, nachdem ich mich vorgestellt hatte. Er behauptete, mein Name habe mich verraten. Von diesem Moment an hatte er mich in der Hand, nicht umgekehrt.«
11
B erger wohnte in der Løvenskiolds gate. Die
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