Die Netzhaut
Blut.
Was willst du von mir? Wo ist Mailin?
Sie wachte schreiend auf. Vor dem Wohnzimmerfenster nahm sie ein Gesicht wahr. »Du hast keine Angst, Liss«, murmelte sie. »Du wirst nie mehr Angst haben.« Sie stand auf. Der Schatten vor dem Fenster verschwand. Sie wankte in die Küche. Musste aufs Klo. Sie steckte die Hände in den Eimer und rieb ihre Wangen heftig mit Eiswasser ab. Nach draußen nahm sie die Taschenlampe mit. Der Schneefall war dichter geworden. Auf der Veranda vor dem Wohnzimmerfenster entdeckte sie Spuren. Sie richtete den Lichtkegel darauf. Es waren Stiefelabdrücke, größer als ihre eigenen, von der Tür zum Fenster und zur Ecke der Veranda. Sie ging wieder hinein, band sich die Stirnlampe um und zog den dicken Anorak an, den sie immer noch nicht zurückgegeben hatte. Von der Ecke der Veranda aus folgte sie den Spuren bis zum Schuppen. Auf dessen Rückseite verloren sie sich zwischen den Bäumen.
Es schneite die ganze Nacht hindurch. Sie schlief nicht. Die Tür hatte sie abgeschlossen. Sie lag mit offenen Augen im Dunkeln und hatte eine leere Weinflasche neben das Bett gestellt. Wusste nicht, was sie damit eigentlich wollte. Vielleicht den Hals abbrechen und sie als Stichwaffe benutzen. »Ich habe keine Angst«, wiederholte sie. »Jetzt nicht mehr. Alles, was Mailin ertrug, kann auch ich ertragen.«
Irgendwann musste sie doch eingeschlafen sein, denn plötzlich dämmerte es draußen. Sie stand auf und huschte hinaus, um zu pinkeln. Keine Spuren mehr auf der Veranda. Sie waren verwischt. Ich hätte sie fotografieren sollen, schoss es ihr durch den Kopf. Doch wem hätte sie die Fotos zeigen sollen? Mit der Polizei rede ich nicht mehr, entschied sie.
Sie machte Feuer im Kamin und im Ofen. Kochte Wasser auf und rührte Kaffeepulver hinein. Sie schlang sich eine Decke um die Schultern, zündete sich eine Zigarette an. Dann setzte sie sich ans Fenster und sah zu, wie der Tag anbrach. Sie hatte nichts vor, dennoch dieses Gefühl, etwas unternehmen zu müssen, ehe es zu spät war. Sie schlug ihr Notizbuch auf.
Spuren im Schnee. Winterstiefel. Viel größer als meine eigenen.
Traum: Mailin rudert an Land, dreht sich um, doch es ist nicht Mailin. Großmutter steht im Wohnzimmer. Will mir etwas sagen.
Sie rauchte die Zigarette fertig, spürte das Brennen tief in ihrer Brust. Sie musste etwas essen. Essen und kotzen. Doch sie hatte nichts zu essen da. Sie musste etwas zu sich nehmen, das sie stark, unüberwindbar und wütend machte, auch wenn es nur kurz andauern sollte. Aber so etwas hatte sie auch nicht.
Ich will nie mehr von hier wegfahren.
Du kannst nicht hierbleiben, Liss.
Ich habe keinen anderen Platz.
Du kannst dich nicht verstecken. Die Welt ist da, wo du bist.
Sie schaute zum Sofa hinüber, auf dem sie die Nacht verbracht hatte. Eines der Kissen war auf den Boden gefallen. Als sie es aufhob, entdeckte sie, dass der Reißverschluss des Bezugs halb offen war. Auf der Innenseite fand sie ein zu einer Kugel zusammengeknülltes Blatt Papier. Liss faltete es auseinander. Es war ein Zeitungsausschnitt der Onlineausgabe von
VG
, datiert vom 21. November 2003. Doch der Ausdruck trug das Datum 10. Dezember 2008. Am nächsten Tag war Mailin verschwunden.
»Vermisstes Mädchen (19) bei Bergen ermordet aufgefunden«, lautete die Überschrift.
15
Donnerstag, 1. Januar 2009
D as Café Klimt war an diesem Abend nur mäßig besucht, doch ein paar bekannte Gestalten hingen an der Bar über ihrem Bier, und an einem der Tische wurde immer noch das neue Jahr gefeiert. Roar Horvath wechselte ein paar Worte mit den Jungs hinter der Bar. Einen von ihnen hatte er nicht mehr gesehen, seit er mit ihm zusammen in der Verteidigung in der Jugendmannschaft des LSK gespielt hatte. Doch auch er hatte schon mitbekommen, dass Roar in dem Mord »an der Frau, die bei
Tabu
teilnehmen sollte«, ermittelte. Als Roar die neugierigen Fragen mit seinem ironischen »Kein Kommentar« beantwortete, prostete man ihm zu und klopfte ihm auf die Schulter. Und ehe er sich’s versah, hatte er das erste Bier geleert. In Lillestrøm auszugehen war trotzdem immer wie nach Hause kommen.
Dan-Levi Jakobsen tauchte in der Tür auf, die zu den Toiletten hinunterführte. Roar glaubte zunächst, er sei beim Friseur gewesen, ehe er sah, dass der Freund seine dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Als Frisur nicht gerade der letzte Schrei, doch Dan-Levi würde sich niemals von seinen langen Locken trennen. Sie waren
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