Die Netzhaut
dem Fensterbrett. Vielleicht waren sie noch nicht ganz tot, lagen einfach da und warteten auf wärmere Zeiten, um wieder zum Leben zu erwachen. Wenn Mailin nun gar nicht tot war … Wenn sie nur tiefgefroren war und man sie wieder auftauen konnte. Langsam den Mund bewegte, die Augen öffnete. Sie waren zerstört. Sie würde nie wieder sehen können. Wer kann nur wollen, dass Mailin nichts mehr sieht?
Sie knallte den Deckel wieder zu und spürte mit einem Mal eine unbändige Wut, dieselbe Wut, die sie vor zehn Jahren dazu gebracht hatte, sich nicht vom Fleck zu rühren. Jetzt riss sie die Tür auf und schrie hinauf zu den Bergen hinter der Hütte.
Es war fast dunkel, als sie die Eimer nahm und sich den Weg zu dem großen Fels hinunter bahnte. Das Eis war jetzt bestimmt tragfähiger als beim letzten Mal kurz vor Weihnachten. Doch der gefrorene Pfad folgte wie immer dem Verlauf des Bachs, bis ihr das schwarze Winterauge des Morrvann entgegenblickte. Sie bückte sich, knipste die Taschenlampe an und hielt sie nach unten. Der Lichtkegel brach durch das klare Eiswasser und verschwand in der Tiefe.
Sand. Sie grub die Tür des Bootshauses aus. Das Boot lag mit dem Bauch nach oben und musste dringend abgedichtet werden. Sie roch daran. See und Fäulnis. Unter dem Dach hingen Angeln und ein paar Gegenstände, die an die Zeiten erinnerten, als man noch Holzskier benutzte. Lange bevor sie geboren wurde. Beide Ruder hingen dort. Sie nahm sie herunter, drehte sie um, leuchtete an ihnen entlang, studierte jeden Zentimeter des Holzes, jeden Riss, jede Einkerbung.
Doch alles war wie immer.
Ferien und Ski. Sie lag auf dem Sofa. Es roch nach Kiefernholz und Winterstaub. Stille. Kein anderes Geräusch als ihre Gedanken. Mailins Stimme: »Soll ich deine Skier wachsen, Liss?« Es war Ostern, ein paar Monate, nachdem Pål mit auf der Hütte gewesen war. Der Kommentar ihrer Mutter: »Sie wachst ihre Skier immer selbst.« Doch an diesem Morgen lag Liss auf dem Sofa. Ein paar Minuten zuvor hatte sie sich hinter dem Schuppen zusammengekrümmt, denn niemand durfte sehen, dass sie sich erbrach. Niemand außer Mailin durfte wissen, dass ihr die ganze Zeit übel war. Nicht dass ihre Mutter sie verurteilt hätte. Sie verurteilte niemanden. Doch sie hätte unbedingt wissen wollen, wie es passiert war, warum Liss nicht aufgepasst hatte und wer dafür zur Verantwortung gezogen werden musste. Die Skier waren fertig gewachst. Mailin wartete auf sie. Sie war nicht mehr so oft in der Hütte, sondern zog lieber mit ihren Kommilitonen in die Nordmarka oder büffelte fürs Examen. Vielleicht sind das unsere letzten gemeinsamen Ferien, hatte Liss gedacht. Ihr war übel. Sie hatte Angst. Angst vor dem, was da in ihr wuchs, sich gewaltsam einen Weg nach draußen bahnen und sie zu etwas anderem machen würde. Auch Mailin durfte nicht erfahren, mit wem sie zusammen gewesen war. Sie verstand nicht, warum Liss es ihr nicht sagen wollte, und gab schließlich auf.
Draußen war es dunkel geworden. Liss zückte ihr Notizbuch.
Ferien: Soll ich deine Skier wachsen, Liss?
Und wenn du es herausgefunden hättest, Mailin. Du hättest mich gehasst.
Sie rollte sich zusammen, spürte, dass sie bald einschlafen würde. Hier draußen wurde sie abends immer todmüde. Schlief tief und ungestört, als hätte der Wind ihre Unruhe fortgetragen, als hätten die Bäume sie gänzlich aufgesogen, sodass nur noch ein leichtes Kribbeln in ihrem Körper zurückblieb. Sie streckte die Hand aus und drehte die Flamme der Öllampe herunter, die auf dem Tisch stand. Die beiden auf dem Kamin ließ sie brennen. Sie gab den Gedanken auf, sich umzuziehen und ins Bett zu legen. Ließ sich einfach in den Schlaf gleiten. Ich könnte den ganzen Winter schlafen, war ihr letzter Gedanke, und erst im Frühjahr wieder erwachen. Sie steht am Strand und sieht Mailin heranrudern. Sie sitzt mit dem Rücken zu ihr im Boot. Rudert und rudert. Dreh dich um, Mailin, damit ich dich erkenne. Sie dreht sich um. Es ist nicht Mailin. Es ist ihre Großmutter. Sie trägt ein schwarzes Kleid. Die roten Haare liegen wie ein Schleier auf ihrem Rücken … Liss zuckt zusammen. Jemand kommt ins Wohnzimmer. Sie versucht aufzuwachen. Was ist mit meinen Augen geschehen? Ich kann nicht mehr klar sehen. Die alte Frau rührt sich nicht von der Stelle, steht vor dem Kamin und starrt sie an. Sie trägt eine Art Uniform und darüber einen langen, grünen Mantel. Ein Tuch ist um ihren Kopf gewunden, durchtränkt von
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