Die Netzhaut
waren sie da.
Mailins Buch. Ich schreibe dir, Mailin. Mehr kann ich nicht tun. Was hättest du getan?
Sie blätterte zu der Seite zurück, auf der sie die drei Wörter notiert hatte:
Sand, Ferien, Ski.
Las sie immer wieder. Sand hatte mit der Hütte zu tun. Im Sommer hatte Mailin einmal ein morsches Ruder gefunden, das an ihren Strand geschwemmt worden war. Dazu hatten sie sich eine Geschichte ausgedacht: Ein Mann rudert auf den See hinaus. Sein Boot kentert. Er ertrinkt, stirbt jedoch nicht. Nachts rudert er mit einem Ruder über den Morrvann. Eines Tages wird er ans Ufer kommen, um das andere Ruder zu holen. Findet er es nicht, wird er uns dafür mitnehmen.
Sie hatten gelacht und sich abends diese Geschichte erzählt, während sie auf den Mann in dem Boot horchten.
Hörst du ihn, Mailin?
Mailin steht aus dem Bett auf und geht zum offenen Fenster. Die Nacht ist hellgrau.
Ja, ich kann ihn hören. Er rudert heute Nacht. Er kommt näher.
Liss verbirgt ihren Kopf unter dem Kissen. Mailin legt sich zu ihr und schließt sie in die Arme.
Wenn er kommt, kann er mich mitnehmen. Ich lasse nicht zu, dass er dich anrührt, Liss.
Im Auto dachte sie immer noch an die drei Wörter. Ski. An all die Skitouren, die sie durch die Wälder und über die zugefrorenen Seen unternommen hatten. Von Losby bis hinunter nach Flateby. Das war ihr Terrain. Ferien. Aber welche? Damit mussten irgendwelche Winter- oder Osterferien gemeint sein, denn Ski passte nicht zum Sommer. In Mailins letzten Schuljahren, vor Beginn ihres Studiums, waren sie nur zu zweit in der Hütte gewesen. Ihre Freunde hat Mailin nie dorthin mitgenommen. Bis sie Pål Øvreby kennenlernte. Er war der Erste, den sie auf die Hütte mitnahm. Da hatte sie schon das erste Semester hinter sich. Liss mochte Pål nicht. Vom ersten Augenblick an benahm er sich so, als gehörte die Hütte ihm. Wollte bestimmen, wer zu welchem Zeitpunkt Wasser und Brennholz holte. Früher hatten sie das nie verabredet. Liss sorgte ohnehin dafür, dass alles in Ordnung war. Stand stets als Erste auf, füllte die Eimer mit Wasser und entfachte das Feuer im Ofen. Auf einmal stritten sie sich über diese Dinge. Und zu allem Überfluss wollte Pål Øvreby ihnen beweisen, dass er nicht nur die Hütte, sondern auch Mailin besaß.
In diesem Winter besuchte Liss die letzte Schulklasse. Sie waren zu dritt in der Hütte. Am Morgen ging sie in den Schuppen und setzte sich aufs Plumpsklo. Sie legte nicht den Haken vor die Tür. Auf einmal hörte sie Schritte. Es war nicht Mailin. Sie schaffte es nicht rechtzeitig, die Hose wieder hochzuziehen, bevor die Tür aufgerissen wurde. Doch Pål entschuldigte sich nicht, sondern glotzte sie schweigend an. Er kam zu ihr herein und stellte sich ganz dicht vor sie. Seine Hand glitt zwischen ihre Beine. »Du bist so schön.« Sie war wie festgefroren. Spürte einen Finger in sich. »Liss«, murmelte er und wollte sie küssen. Er stank nach Tabak und schimmeligem Käse, oder kam der Geruch von der Toilette? Dieser Geruch löste ihre Erstarrung. Sie drängte sich an ihm vorbei und stürzte aus der Tür.
Warum behielt sie es für sich? Würde Mailin davon erfahren, wie Pål wirklich ist, wäre sie sehr traurig. Dadurch konnte sich ihr Verhältnis zu ihm nur noch verschlimmern, und diesen Gedanken ertrug Liss nicht. Kurz darauf hatte Mailin sowieso Schluss gemacht, und es gab keinen Grund mehr, ihr davon zu erzählen.
*
Jemand ist hier gewesen, dachte sie spontan, als sie über den Hügel kletterte und sich an der windgeschützten Seite des Hauses hinuntergleiten ließ. Sie blieb stehen und dachte darüber nach. Die Gardine! Sie hatte die Wohnzimmergardine auch an dieser Seite vorgezogen, tat dies immer, bevor sie die Hütte verließ. Jetzt war sie nicht mehr vorgezogen. Sie ging um die Ecke zur Veranda, nahm den Schlüssel vom Haken unter der Dachrinne und schloss die Tür auf. Kein Zeichen eines Einbruchs. Alles sah vollkommen unberührt aus. Abgesehen von der Gardine. Irrte sie sich vielleicht doch? Oder war Tage hier gewesen? Viljam? Ihre Mutter? Letzteres war ausgeschlossen. Ihre Mutter hatte das Haus seit Heiligabend nicht mehr verlassen.
Liss nahm sich nacheinander jedes Zimmer vor, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Danach ging sie noch einmal um die Hütte herum und schaute in den Schuppen. Dort stank es abgestanden nach Exkrementen. Als sie den Klodeckel anhob, stieg ihr ein Geruch in die Nase, der an Chlor erinnerte. Tote Fliegen auf
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