Die Netzhaut
vor der Nase zuschlagen. Aber so war das schon immer. Alles sollte unter der Decke gehalten und intern geklärt werden, doch nie ist etwas geschehen. Selbst wenn es zum Schlimmsten kam, hat niemand eingegriffen. Unglaublich, wozu einige imstande sind, nachdem sie die Bibel Wort für Wort gelesen haben und auch wörtlich nehmen. ›Wenn dir aber dein rechtes Auge Ärgernis schafft, so reiß es aus und wirf’s von dir. Wenn dir deine rechte Hand Ärgernis schafft, so haue sie ab und wirf sie von dir. Denn es ist besser, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle fahre.‹ Und so weiter.«
Roar knallte sein Glas auf den Tisch.
»Was du da gerade zitiert hast, das mit dem Auge, steht so etwas in der Bibel?!«
»Aber klar. Matthäus, 5. Kapitel, Verse 29 und 30.«
Dan-Levi stammte aus einer Familie, in der nicht wortwörtlich nach der Heiligen Schrift gelebt wurde. Roar hatte sich bei ihm zu Hause immer sehr wohl gefühlt. Seine Eltern waren warmherzig und großzügig, und Dan-Levis Vater war weitaus weniger streng als sein eigener Vater, der als 18-jähriger Flüchtling aus Ungarn gekommen war, »mit nichts als zwei leeren Händen und einem eisernen Willen«, wie er oft genug betonte. Dennoch musste Dan-Levi die Bibel auswendig lernen, und Roar hatte ihn im Verdacht, diese Erziehung auch seinen eigenen Kindern angedeihen zu lassen.
In diesem Moment klingelte sein Handy. Als er den Namen auf dem Display sah, ging er nach draußen.
»Du kannst ganz beruhigt sein. Ich wollte mich heute Abend nicht zu dir nach Hause einladen.«
Roar musste lachen und war überrascht, wie froh er war, den melodiösen australischen Akzent zu hören. Auf der Weihnachtsfeier hatte er Jennifer Plåterud zunächst für eine Amerikanerin gehalten, doch als er eine Andeutung machte, war sie richtig sauer geworden und hatte sofort erklärt, dass sie weniger amerikanisch wirke als er.
»Wie schade«, entgegnete Roar. »Gegen einen Besuch hätte ich nicht das Geringste einzuwenden gehabt. Allerdings habe ich Emily bei mir und werde bei meiner Mutter übernachten. Da ist ein Besuch vielleicht keine so gute Idee.«
Jennifer lachte ebenfalls, wenn auch ein wenig angestrengt, wie er fand. Die Vorstellung, seiner Familie vorgestellt zu werden, war wohl doch eine Zumutung, selbst wenn er es nur im Scherz gesagt hatte.
»Ich rufe aus meinem Büro an«, sagte sie.
»Arbeitest du immer so spät am Abend?«
»Kommt öfter vor. Es gibt immer genug zu tun.«
Ihre Arbeitskapazität machte ihn schwindelig. Auch in dieser Hinsicht war sie ihm offenbar überlegen, ohne dass sie eine große Nummer daraus machte.
»Ich habe gerade einen Anruf von Liss Bjerke bekommen.«
»Was?« Roar sammelte sich rasch wieder. »Sie hat dich angerufen?«
»Hat sich so angehört, als wollte sie nichts mehr mit dir oder irgendwelchen Kollegen vom Polizeipräsidium zu tun haben. Leider habe ich nicht herausgefunden, woran das liegt. Sie scheint immer noch unter Schock zu stehen.«
Roar erzählte ihr nicht, wie die gestrige Vernehmung verlaufen war.
»Was wollte sie von dir?«
Jennifer zögerte.
»Anscheinend ist sie im Besitz gewisser Informationen, die sie lieber mir als euch anvertrauen möchte. Sie sagte, zu einer Medizinerin habe sie mehr Vertrauen.«
»Was für Informationen?«
»Es geht wohl um irgendein Dokument, das sie gefunden hat. Mehr wollte sie am Telefon nicht sagen. Wir haben verabredet, dass sie morgen früh hierherkommt. Ich habe natürlich versucht, sie zu überreden, dass sie sich an euch wendet, aber sie weigert sich.«
Kommissar Viken unterstrich immer wieder, dass man ihn jederzeit anrufen könne. Er sei stets erreichbar. Roar fiel auf, wie wenig er von ihm wusste. Viken trug keinen Ring und sprach niemals von einer Familie oder über sich selbst.
Als er seine Nummer wählte, um ihm von Jennifers Anruf zu erzählen, fühlte sich Roar wie ein übereifriger kleiner Junge, der seinem Papa unbedingt etwas Wichtiges erzählen musste.
Der Kommissar fragte:
»Warum hat sie dich angerufen?«
»Wer, Plåterud?« Roar hörte, wie dumm seine Gegenfrage klang.
»Warum hat sie dich angerufen?«, wiederholte Viken.
Roar schaute sich um. Die Hauptstraße in Lillestrøm lag verlassen da.
»Weiß nicht.«
Er ging rasch zu den Neuigkeiten über, die er über Bergers privaten Hintergrund herausgefunden hatte, und dachte, dies würde Vikens psychologisches Interesse wecken.
Der Kommissar am anderen Ende der Leitung
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