Die Netzhaut
Postamt, dann Morrvann. 20:09 Uhr: SMS an Viljam.
11. Dezember, Uhrzeit? Bist zur Hütte gefahren. 15:48 Uhr: SMS an mich. 16:10 Uhr: SMS an Viljam. 17:00 Uhr: Termin vereinbart mit JH. 17:04 Uhr: Auto in der Welhavens gate geparkt. 17:30 Uhr: SMS an Berger. 18:11 Uhr: SMS an Viljam. 19:00 Uhr: Du hast eine Verabredung mit Berger. 19:03 Uhr: Rufst Berger an, erreichst ihn nicht. 19:05 Uhr: SMS an Berger, dass du dich ein bisschen verspätest. (Berger sagt, du bist nicht gekommen.) 20:30 Uhr: Bist nicht im Fernsehstudio aufgetaucht.
12. Dezember: 05:35 Uhr: Ein Film wird von dir gemacht. Gefangen, nackt. Deine Augen.
24. Dezember: Ein Päckchen mit deinem Handy kommt hier an, einen Tag zuvor in Tofte aufgegeben.
Sie las den Text noch einmal durch. Ohne nachzudenken, schrieb sie:
Frag ihn nach
Death by water.
Sie warf einen Blick auf das Post-it, das sie auf der Korktafel in Mailins Büro entdeckt hatte.
Wen wolltest du fragen, Mailin?
Ein Phönizier. Seit vierzehn Tagen tot. Möwenschreie. Ein Wirbelsturm. Ich habe auch getötet.
Sie betrachtete den letzten Satz und las ihn sich mehrmals lautlos vor. Sie spürte die Bewegungen ihrer Lippen.
Etwas wird geschehen, Liss. Du kannst es nicht steuern.
Sie stand auf, ging zum Fenster, öffnete es und spürte, wie ihr die kalte, graue Luft ins Gesicht schlug. Die Geräusche der Stadt waren überall.
Du bist mitten in der Welt, doch niemand weiß, wer du bist oder was du getan hast.
Sie warf sich die Jacke über, knallte die Haustür hinter sich zu und hastete die Langgata hinunter. Sie brauchte Zigaretten und irgendetwas zu essen. Entschied sich für Eis, aber der Kiosk, den sie entdeckte, war geschlossen. Sie war allerdings eher erleichtert als frustriert, weil sie spürte, dass sie sich bewegen musste. Erst gehen, dann essen und dann kotzen. Sich hinlegen und lange schlafen.
Sie bog in die Sofienbergsgate ein, nahm die Gestalt nicht wahr, die an der Ecke zur Gøteborggata stehen geblieben war und ihr für ein paar Sekunden nachschaute, ehe sie Liss zwischen den Bäumen hindurch folgte. Zum ersten Mal, seit Mailin gefunden worden war, tauchten die Bilder von Zako in ihrer Erinnerung auf. Er lag auf dem Sofa. Schlief er? Konnte sie sich das einreden? Dass Zako in seiner Wohnung in der Bloemstraat wieder erwacht und ins Bad gegangen war? Dass er geduscht hatte und danach in die Stadt gefahren war? Dass er jetzt mit Rikke zusammen war, Liss nicht mehr brauchte und sie deshalb in Ruhe ließ? Als sie hinter sich Schritte im Schnee hörte, spürte sie, dass sie ihr folgten. Das Gefühl formte sich zu einem Gedanken: Wenn mich doch jemand packen und von hier fortreißen würde. Fort von allem, was mich daran hindert zu vergessen, was ich getan habe … Eine Art Hoffnung lag in diesem Gedanken, und der feste Griff um ihre Arme war wie eine Erfüllung. Sie leistete keinen Widerstand, ließ sich vom Bürgersteig wegzerren, hinein in den Schatten eines nackten Baumes. Er war nicht viel größer als sie, besaß jedoch starke Hände, die sie an den Stamm pressten. Wenn sie sich nicht wehrte, das wusste sie, würde es wieder geschehen, das mit dem Licht, das sich zurückzog und in alles einbrannte, was sie umgab. Und vielleicht würde alles verschwinden und nichts von dem, was an diesem Abend in diesem Park geschah, sie etwas angehen.
»Hör auf, mir zu folgen!«, zischte er. Sein Mund roch nach überreifen Bananen. Im Dunkeln sah sie die Konturen von Zakos Gesicht, die hohen Wangenknochen und das spitze Kinn.
»Okay«, murmelte sie, und plötzlich begriff sie, wer er war. Er hatte sie im Treppenhaus in Sinsen an der Kehle gepackt. Er wusste etwas darüber, was mit Mailin geschehen war. Sie zwang sich zu denken: Ich habe keine Angst. Egal, was er tut. Ich habe keine Angst mehr.
»Du hast in Mailins Büro herumgeschnüffelt«, stieß sie hervor.
Er beugte sich weiter zu ihr vor.
»Ich habe nichts gestohlen.«
Sie bemühte sich, ihre Stimme zu kontrollieren.
»Was wolltest du da?«
»Hab ich dir schon gesagt«, knurrte er. »Ich hatte einen Termin. Hab in ein paar Schubladen geguckt, aber ich hab nichts gefunden.«
»Du hast eine Seite aus ihrem Terminkalender gerissen.«
Der Griff um ihre Arme lockerte sich.
»Mailin war okay«, sagte er. »Es gibt nicht viele, die wirklich helfen wollen. Viele tun nur so. Ich will in nichts reingezogen werden. Und ich will nicht, dass du mich verfolgst.«
»Das war reiner Zufall«, versicherte sie, »dass wir uns ein paarmal über
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