Die Netzhaut
den Weg gelaufen sind. Aber ich muss herausfinden, was an diesem Tag passiert ist.«
Er ließ sie los.
»Von welchem Tag redest du?«
»Donnerstag, 11. Dezember. Mailin ist nur zu ihrer Praxis gefahren, weil ihr einen Termin vereinbart hattet. Sie hat das Auto in der Straße geparkt. Dann ist sie verschwunden, und niemand hat sie gesehen.«
Er trat einen Schritt zurück.
»Das kann nicht sein.«
»Was … was kann nicht sein?«
Er schaute sich um.
»Sie hat einen Kurs an der Sporthochschule gegeben. Ein paarmal hat sie mich danach in die Stadt mitgenommen. Ich kann mich gut an ihr Auto erinnern.«
Er drehte sich wieder zu ihr um. »Außer mir müssen es doch auch andere Leute an diesem Tag gesehen haben.«
Sie starrte in sein Gesicht. Immer noch war sie sich nicht sicher, wie sie ihn einschätzen sollte. Liss sah Mailins kreideweißes Gesicht vor sich, die halb geschlossenen Augen, die voll von geronnenem Blut waren.
»Hat denn keiner was verstanden?«, murmelte er.
Was verstanden?, wollte sie fragen, doch in diesem Moment drehte er sich abrupt um und ging davon. Sie fasste sich ein Herz und setzte ihm nach.
»Wenn du was gesehen hast …«, rief sie. »Dann musst du es mir sagen.«
Er beschleunigte das Tempo, begann zu laufen und verschwand im Dunkeln.
*
Sie schaltete das Licht im Wohnzimmer aus und ließ sich wieder auf das Sofa sinken. Hatte immer noch einen Vanillegeschmack im Mund. Magensäure brannte in ihrer Kehle. Ihr Magen fühlte sich kalt, gefühllos an.
Die Haustür ging auf. Dann Viljams Stimme.
»Bist du zu Hause, Liss?«
Zu Hause? Sie hatte ein paarmal hier übernachtet, weil sie keine andere Bleibe hatte. Es war sein Vorschlag gewesen, und er hatte ihr Mailins Schlüssel gegeben. Hatte Mailin sich gefreut, wenn sie seine Stimme hörte? Vielleicht hatte sie ihm etwas Bestimmtes erzählt, worauf er seine Arme um sie gelegt hatte.
»Sitzt du hier im Dunkeln?«
Sie setzte sich auf, griff zum Feuerzeug und zündete eine Kerze an, die auf dem Tisch stand.
»Mailin hat auch gern Kerzen angezündet«, sagte er und sank in einen Sessel.
»Es gefällt mir hier.«
»Ja, es ist ein schönes Haus«, antwortete er und nickte. »So friedlich. Mailin und ich …« Er stand abrupt auf. »Ich habe das ernst gemeint, was ich gestern sagte. Dass du gerne noch ein paar Tage bleiben kannst. Mailin hätte das bestimmt sehr gefreut.«
Seltsam, so etwas zu sagen, dachte sie. Aber es stimmte wohl. Vieles, was er sagte, stimmte. Er trauerte genauso wie sie. Deshalb ertrug sie es, bei ihm zu sein.
Er lief die Treppe hinauf, in die Küche. »Wie schön, dass du den Abwasch gemacht hast.«
»Ist doch klar«, entgegnete sie. »War ich nicht dran heute?«
Sie stellte sich vor, wie er über ihre Bemerkung schmunzelte. Fast hätte sie es auch getan. Für einen Moment war es ein gutes Gefühl, dort auf dem Sofa zu sitzen. Viljam hielt Distanz. Er zog sich nicht völlig zurück, ließ sie aber in Ruhe. Hatte vermutlich genug mit sich selbst zu tun. Über zwei Jahre waren Mailin und er ein Paar gewesen. Er vermisste sie, aber nicht so, wie sie Mailin vermisste. Mailin würde für ihn zu einer strahlenden Erinnerung werden, umgeben von Dunkelheit. Er würde darüber hinwegkommen und eine andere finden. Liss würde nie darüber hinwegkommen.
Sie ging zu ihm in die Küche. Er stand am Fenster und blickte auf die beleuchtete Straße hinaus.
»Einer deiner alten Freunde ist vorhin hier gewesen«, sagte er.
Sie schaute ihn fragend an.
»Er hat zumindest gesagt, er sei ein Freund von dir. Sah allerdings ziemlich fertig aus, der Typ.«
Plötzlich schoss ihr ein Verdacht durch den Kopf. »Dunkle Locken, Narbe auf der Stirn, Matrosenjacke?«
»Ganz genau. Zuerst hat er nach dir gefragt, wo du bist und wann du wiederkommst. Dann wollte er plötzlich wissen, ob Mailin hier gewohnt hat.«
»Er ist kein Freund von mir.«
Sie erzählte von Mailins Patient, wie sie ihm mehrmals zufällig begegnet war und er sie im Park verfolgt hatte.
»Und erst jetzt hat die Polizei angefangen, sich für diesen Kerl zu interessieren?«
Sie antwortete nicht, dachte an etwas anderes.
»An der Korktafel in Mailins Praxis hing ein Zettel.
Death by water
stand darauf. Weißt du, woher sie den hatte?«
»Death by water?«
Er schien über die Frage nachzudenken. Dann schüttelte er den Kopf. »Hört sich nach einer typischen Mailin-Geschichte an. Irgendwas, womit sie sich gerade beschäftigt hat.«
17
Freitag, 2. Januar
L iss
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