Die Netzhaut
schwieg. Dann sagte er:
»Wir laden ihn vor. Ich kümmere mich darum. Heute Abend habe ich übrigens noch mal Kontakt zum Montreal Community Police Department aufgenommen.«
Roar hatte angeboten, den Vater von Mailin Bjerke aufzuspüren, doch Viken war fest entschlossen, dies selbst zu tun.
»Haben sie den Mann immer noch nicht gefunden?«
Es hörte sich an, als nippe der Kommissar an etwas, vermutlich Kaffee, weil er, wie Roar wusste, keinen Alkohol trank.
»Anscheinend ist er verreist, doch niemand weiß, wohin oder wie lange. Sie waren mehrmals in seiner Wohnung außerhalb von Montreal und haben mit Nachbarn und Bekannten gesprochen.«
»Ist doch angeblich ein Künstler, oder?«, fragte Roar. »Solche Leute kommen und gehen, wie es ihnen passt.«
Viken kommentierte diese Behauptung nicht.
»Bisher wird intern nach ihm gefahndet«, sagte er. »Es liegt ganz bei uns, ob die Fahndung öffentlich ausgeschrieben wird. Fürs Erste sollten wir abwarten.«
»Das ist ja schlimmer als bei uns Journalisten«, seufzte Dan-Levi, als Roar an ihren Tisch zurückkehrte. »Immer bei der Arbeit.«
»Woher weißt du, dass es beruflich war?«
»Kann natürlich auch deine neue Flamme gewesen sein, die Medizinerin«, schlug Dan-Levi vor.
Roar blickte verstohlen über die Schulter.
»Wenn das rauskommt, Dan, dann schrecke ich auch vor Mord nicht zurück. Nicht eine Sekunde.«
»Tja, wenn das so ist … Eigentlich wollte ich gleich nach Hause gehen und einen Artikel über ehemalige Einwohner unserer Stadt schreiben, die jetzt in Oslo ein ausschweifendes Leben führen. Aber dann schreibe ich eben über die Beckhams. Wie wäre es zum Beispiel mit folgender Geschichte: David Beckham hat beschlossen, seine Karriere als Rechtsaußen von LSK zu beenden, und schickt schon mal die scharfe Vicky voraus, damit sie das Nachtleben in der City von Lillestrøm testen kann.«
Doch Roar ließ sich nicht ablenken. Er wiederholte seine Drohung und unterstrich sie mit einer Geste, die eine durchschnittene Kehle andeutete.
Dan-Levi zuckte mit den Schultern und senkte den Kopf.
»Schaust du dir ab und zu
Tabu
an?«, wollte er plötzlich wissen.
Roar nickte. Jetzt gehörte das ja genau genommen zu seinem Job.
»Am Dienstag werden garantiert eine Million Leute zugucken«, schätzte Dan-Levi. »Hast du gestern in
VG
gelesen, was das Thema der letzten Sendung sein soll?«
Roar hatte in den letzten Tagen kaum einen Blick in irgendeine Zeitung werfen können.
»Der Titel der Sendung lautet ›Tod im Studio‹. Der Hype ist riesengroß. Die Leute erwarten sich eine Show, die alles Bisherige in den Schatten stellt.«
Roar verzog missbilligend das Gesicht.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ihr Pfingstfreunde auf dem Sofa sitzt und euch an reiner Blasphemie ergötzt.«
»Darum geht’s ja gerade!«, rief Dan-Levi. »Wäre Berger irgendein dahergelaufener Atheist, würde sich kein Schwein für ihn interessieren. Aber der Kerl behauptet ja steif und fest, dass er an seinen eigenen Gott glaubt.«
»Meinst du etwa Baal oder so etwas?«
»Baal Zebub, den Herrn der Fliegen. Ein Atheist kann heute niemand mehr provozieren, aber gegen einen Promi, der sich als Satanist outet, werden alle frommen Christen in unserem Land Sturm laufen.«
»Cleverer Typ«, bemerkte Roar.
16
L iss schloss die Haustür in der Langgata auf und stellte sich Mailin vor, wie sie dasselbe getan hatte, wenn sie nach Hause kam. Wie sie ihre Stiefel auf die Ablage im Flur gestellt hatte, in die Küche gegangen war und einen Blick in die Spüle geworfen hatte, in der sich der Abwasch türmte. Viljam hatte ihr erzählt, dass sie abwechselnd Küchendienst hatten. Wäre Mailin dran gewesen, hätte sie bestimmt unverzüglich angefangen. Sie hatte sich immer zuerst die unangenehme Arbeit vom Hals geschafft, ehe sie ihr über den Kopf wachsen konnte. Danach hatte sie sich vielleicht an den Küchentisch gesetzt. Hatte sie auf das Geräusch der Haustür gelauscht und sich danach gesehnt, seine Stimme zu hören?
Nach dem Abwasch setzte sich Liss auf die Stufen vor dem Haus und rauchte im kalten Winterabend eine Zigarette. Danach ging sie wieder hinein, setzte sich in eine Ecke des Sofas und zog eine Decke über sich. Sie blickte hinaus und konnte die Umrisse von Grill und Geräteschuppen im Dunkeln ausmachen. Sie hatte ihr Notizbuch auf den Couchtisch gelegt. Jetzt nahm sie es zur Hand.
Was ich bisher herausgefunden habe:
10. Dezember, 16:45 Uhr: Du fährst von zu Hause weg. Erst
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