Die Netzhaut
hatte sich für zehn Uhr mit Jennifer Plåterud im Rechtsmedizinischen Institut verabredet, doch es war fast halb zwölf, als sie an der Rezeption ankam. Sie hatte am Abend zuvor drei Schlaftabletten genommen und war vor vierzig Minuten mit brummendem Schädel aufgewacht.
»Tut mir leid, ich habe verschlafen«, sagte sie, als Jennifer Plåterud ihr entgegenkam.
Sie war kleiner, als Liss sie in Erinnerung hatte, vermutlich kaum größer als ein Meter fünfzig. Selbst mit ihren hochhackigen Schuhen war die Pathologin mehr als einen halben Kopf kleiner als sie. Sie war stark und mit viel Geschick geschminkt. Die blauen Augen waren betont, und ihr Mund wirkte größer. Unter ihrem offenen Arztkittel trug sie ein kornblumenblaues Kostüm und um den Hals eine Kette mit Perlen, die echt aussahen.
»Ist schon in Ordnung«, versicherte sie. »Ich habe hier nicht Däumchen gedreht.«
Liss hatte vergessen, dass sie mit Akzent sprach. Er hörte sich amerikanisch an, was auch zum Vornamen passte. Jedenfalls besser, als in Norwegen Jennifer zu heißen, dachte sie.
Ihr Büro war ziemlich groß, das Fenster ging auf den Vorplatz hinaus. Auf dem Schreibtisch stand das Foto eines Mannes in Ölzeug. Strahlend hielt er einen Riesenfisch in die Kamera. Ein anderes Foto zeigte zwei halbwüchsige Jungen auf einer Treppe, wobei der eine stand und der andere saß.
»Hier wohne ich also«, sagte Jennifer Plåterud. »Übrigens habe ich im Internet im Magazin des
Dagbladet
einen Artikel über Sie gefunden. Ich wusste gar nicht, dass Sie als Fotomodell arbeiten.«
Sie füllte Wasser in eine Kaffeemaschine, die in der Ecke stand. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe keine Nachforschungen angestellt. Ein Kollege hat mich darauf aufmerksam gemacht.«
Die Versicherung war überflüssig. Die Medizinerin hatte etwas an sich, das Liss nicht misstrauisch machte.
»Eine aufgeblasene Story«, entgegnete Liss. »Ich habe ein paar Jobs gehabt, nichts von Bedeutung. Ich glaube auch nicht, dass mehr daraus wird. Außerdem ist Amsterdam in dieser Hinsicht nicht gerade der Nabel der Welt.«
»Aber Sie müssen nicht dort bleiben«, erwiderte Jennifer Plåterud energisch. »Eine junge Frau wie Sie kann genauso gut Paris, Mailand oder New York erobern. Die Topfotografen wollen doch nicht immer nur Glamour, sondern das Besondere, ich meine …« Sie errötete unter ihrem Make-up.
»Wollen Sie vielleicht meine Agentin werden?«, fragte Liss und brachte die Pathologin zum Lachen. Sie hatte ein überraschend tiefes und durchdringendes Lachen.
Ihr Eifer ließ darauf schließen, dass sie sich wirklich für die Modebranche interessierte. Und als sie sich kurz darauf über verschiedene Kollektionen und Fotografen ausließ, merkte Liss, dass sie wirklich Ahnung hatte.
Plötzlich hielt sie inne:
»Aber Sie sind ja bestimmt nicht hierhergekommen, um mit mir über Mode und Make-up zu diskutieren, Liss. Darf ich Liss zu Ihnen sagen? Ich heiße Jennifer.«
Ihr freundschaftlicher Ton wirkte so spontan und echt, dass Liss keine Veranlassung sah, sich besonders in Acht zu nehmen. Jennifer bot ihr Kekse aus einer Dose an, und da sie seit gestern nichts gegessen hatte, brach sie sich ein Stück ab. Es schmeckte süßlich nach Kokos und hatte eine klebrige Konsistenz.
»Selbst gebacken«, sagte Jennifer und steckte sich einen Keks in den Mund. »Die kann man in Norwegen nicht kaufen, deshalb muss ich sie selber backen. Das heißt, eigentlich backt sie mein Mann.«
»Sind Sie Amerikanerin?«
»Weit gefehlt!«, protestierte sie. »Ich komme aus Canberra.«
Liss dachte nach. Könnte in Kanada sein.
»Also aus …«
»Richtig!«, kam ihr Jennifer zu Hilfe. »Die Hauptstadt von Australien.«
Liss nahm ihr die Kaffeetasse ab.
»Und was hat Sie hierher verschlagen?«
Mit einem Anflug von Widerwillen stellte sie fest, dass sie sich auf den etwas zu vertrauten Ton eingelassen hatte.
»Wissen Sie, was, Liss? Das frage ich mich auch. Und zwar jeden Tag, wenn ich aufstehe und meinen Blick über die Felder schweifen lasse. Dann denke ich immer: Was zum Teufel machst du hier eigentlich, Jennifer?«
Sie tauchte ein Stück ihres Kekses in die Kaffeetasse.
»Wissen Sie, in ein paar Jahren sind meine Jungs so groß, dass sie auf eigenen Füßen stehen.« Sie schaute zum Foto ihrer Söhne hinüber. »Ich habe vor, unter einem wärmeren Himmel als diesem alt zu werden.«
»Und Ihr Mann, will er das auch?«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Jennifer
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