Die Netzhaut
es warst, die zur Polizei gegangen ist …«
Sie merkte ihm an, dass er es ernst meinte. Sie kannte ihn nun seit acht Jahren. Vier Jahre lang hatten sie zusammengelebt. Sie hatte längst bemerkt, was für ein Waschlappen er war, und ließ ihn spüren, dass sie es wusste. Doch jetzt wurde er in die Ecke gedrängt. Lief Gefahr, alles zu verlieren, und in dieser Situation entdeckte sie eine neue Seite an ihm. Sie zweifelte nicht, dass er gefährlich werden konnte, wenn der Druck noch mehr zunahm.
»Setz dich hin!«, sagte sie energisch. Er ließ sich auf den Stuhl sinken. »Gib mir ein paar Minuten Zeit, um die Therapiesitzung zu beenden.«
Nachdem sie sich bei ihrer jungen Patientin mit der Begründung, es sei etwas Ernstes dazwischengekommen, entschuldigt und sich von ihr verabschiedet hatte, blieb Torunn am Fenster stehen. Sie hatte den Brief von Påls Anwalt erhalten und spürte nun in jeder Sekunde diesen unbändigen Hass auf ihn. Er hatte seine Drohung wahr gemacht und strengte einen Prozess an, um das alleinige Sorgerecht für Oda zu erhalten. Sie war sich darüber im Klaren, dass er vor nichts zurückschrecken und ihre Fürsorgefähigkeiten von einem Experten überprüfen lassen würde. Auch die kleinen Missgeschicke, die Oda widerfahren waren, würde er gegen sie verwenden und eine sinnlose Schlammschlacht beginnen. Das war so dumm von ihm. Denn er hatte gar keine Chance, den Krieg zu gewinnen, den er entfesselt hatte. Und sie war in der Lage, ihn eleganter zu führen als er.
Als sie in den Aufenthaltsraum zurückkehrte, saß er immer noch regungslos da und starrte auf die Tischplatte. Sie hatte sich vorgenommen, ihm noch einmal die Leviten zu lesen, weil er in ihre Therapiesitzung hineingeplatzt war, aber das war nicht nötig. Sie setzte sich auf die andere Seite des Tisches und beugte sich zu ihm vor:
»Wenn ich etwas für dich tun soll, musst du mir zuerst alles erzählen.«
Er schaute zu ihr auf. Sein Blick hatte sich verändert, und mit einem Mal wurde sie von einem Gefühl des Mitleids ergriffen. Das überraschte sie, denn der Hass war immer noch da und brodelte vor sich hin.
»Jemand hat mich angezeigt, weil ich angeblich die Krankenkasse betrüge«, sagte er mit schwacher Stimme, der sie anhörte, dass sein Verdacht ihr gegenüber zusehends schwand.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du dir mit dieser Sache mit den Kassenabrechnungen wirklich etwas eingebrockt hast«, entgegnete sie mehr tröstend als vorwurfsvoll.
»Ich habe das nur getan, um ein paar armen Teufeln helfen zu können, das weißt du genau.«
Wusste sie das? Am Anfang hatte er einigen mittellosen Migranten geholfen. Sie hatte darüber hinweggesehen und ihm sein Argument abgekauft, dass man diesen Menschen, die sich auf der untersten sozialen Stufe befanden, einen Bruchteil des allgemeinen Wohlstands zukommen lassen müsse, um ihnen zumindest ein klein wenig Hoffnung zu geben. Dass sie Hilfe erhielten, die ihnen von Rechts wegen nicht zustand, könne gar als politische Tat verstanden werden, argumentierte er weiter, als Akt des zivilen Ungehorsams. Doch irgendwann war es zu gewissen Gegenleistungen gekommen, die ihm Einnahmen bescherten, von denen er nie zu träumen gewagt hätte. Natürlich stellte dieser ökonomische Gewinn die politischen Motive grundsätzlich infrage. Ein ums andere Mal warnte sie ihn, damit fortzufahren, doch schien er sich inzwischen so in die Sache verbissen zu haben, dass er damit nicht mehr aufhören konnte. So war es nur eine Frage der Zeit, bis ihm jemand auf die Schliche kam, und natürlich war es jemand aus seiner nächsten Umgebung gewesen, nämlich Mailin.
»Ich kann dir helfen, Pål. Du weißt, dass du immer auf mich zählen kannst.«
Sie wurde vom Mitgefühl in ihrer Stimme überwältigt und strich ihm über den Arm. Plötzlich nahm er ihre Hand und drückte sie gegen seine Augen. Seine Schultern begannen zu zittern.
Sie stand auf und ging um den Tisch herum. »Aber Pål«, sagte sie mit tröstender Stimme, »natürlich werde ich dir helfen. Aber wir müssen miteinander Frieden schließen, verstehst du das?«
Es sah wie ein Nicken aus.
»Und noch eines. Du musst mir erzählen, wo du an dem Abend gewesen bist, als Mailin verschwand.«
30
E s hatte drei Mal geläutet. Liss saß auf dem Sofa und blickte in den kleinen Garten mit dem gemauerten Grill hinaus. Der Geräteschupppen ragte aus dem Schnee wie ein Grabstein. Eigentlich wollte sie nicht öffnen. Niemand wusste, dass sie sich hier
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