Die Netzhaut
aufhielt, fast niemand. Sie hatte auch kein Bedürfnis, mit Viljams Freunden oder jemand anders zu reden. Doch als es zum vierten Mal an der Tür läutete, rappelte sie sich auf, ging langsam die Treppe hoch und in den Flur.
Es war für sie.
»Du kannst ruhig gleich aufmachen. So schnell gebe ich eh nicht auf.«
Das wusste sie bereits und hatte ihm dennoch, durch einen Versprecher, verraten, wo sie zurzeit wohnte. Sie hätte Jomar Vindheim – dem Fußballspieler, wie sie ihn in Gedanken nannte – einen deutlicheren Fingerzeig geben müssen. Es besteht keine Möglichkeit, hätte sie zu ihm sagen sollen, weder im Himmel noch auf Erden, dass aus uns beiden ein Paar wird. Selbst in Gedanken klang dieses wir wie ein Akkord auf einem ungestimmten Klavier. Trotzdem musste sie sich eingestehen, dass ihr seine Beharrlichkeit gefiel.
Sie blieb auf der Schwelle stehen, ohne ihm irgendwie zu signalisieren, dass er hereinkommen könne.
»Bist du heute schon im Internet gewesen?«
Nein, sie hatte lange geschlafen und sich danach so langsam wie möglich durchs Haus bewegt. Sie hatte nichts gegessen, nicht einmal geraucht.
»Hast du keine Zeitung gelesen, kein Radio gehört?«
Etwas in seiner Stimme versetzte sie in Alarmbereitschaft.
»Dann ist es wohl besser, dass ich reinkomme«, behauptete er. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, schlüpfte er an ihr vorbei ins Haus.
»Wenn du mir was erzählen willst, dann tu es jetzt gleich.«
»Jimmy ist tot«, sagte er. »Jim Harris.«
Sie saßen in der Küche. Fortwährend drehte sie die Tasse in ihrer Hand. Sie war leer. Liss hatte vergessen, Kaffee aufzusetzen.
»Hast du mit der Polizei gesprochen?«, fragte Jomar. »Ihnen alles gesagt, was du auch mir erzählt hast?«
»Gestern Abend haben sie mich verhört. Wann ist er gestorben?«
»Vorletzte Nacht. Er wurde auf Aker Brygge erstochen.«
Die Polizistin, die sie gestern verhört hatte, war immer wieder auf die Begegnung mit Jim Harris im Park zurückgekommen. Sie hatte sich genau nach seiner Reaktion erkundigt und Liss mehrmals gefragt, wo sie vorletzte Nacht gewesen sei. Dass Jim Harris tot war, hatte sie mit keinem Wort erwähnt.
»Könnte auch etwas anderes dahinterstecken?«, fragte sie leise. »Etwas, das nicht mit Mailin zu tun hat?«
Jomar stützte seinen Kopf in die Hand.
»Jim hatte Drogenschulden. Bei Kleindealern. Das hat er mir selbst erzählt.«
Er rieb sich so heftig die Stirn, dass ein breiter, roter Streifen zurückblieb. »Ich habe versucht, ihm zu helfen, aber ich hätte mehr für ihn tun müssen. Erst letzte Woche war er bei mir und wollte sich dreißigtausend Kronen von mir leihen. Irgendwie hätte ich das Geld schon aufbringen können, doch stattdessen habe ich ihm klargemacht, dass ich ihm nichts mehr leihen würde. Ich war einfach überzeugt davon, dass ihm das nicht guttut und er sich nur immer weiter in die Scheiße hineinreitet.«
»Muss eine rauchen«, sagte sie und stand auf.
Es tropfte von einem Riss in der Regenrinne. Sie zog sich unter das schmale Vordach des Eingangs zurück. Jomar blieb eine Stufe weiter unten auf der Treppe stehen. Sie betrachtete verstohlen sein Gesicht. Obwohl seine ein wenig schräg stehenden Augen vom diffusen Licht grau gefärbt wurden, hatten sie etwas Beruhigendes an sich. Dieser Eindruck wurde, trotz der schmalen Lippen, durch den Mund noch verstärkt. Plötzlich musste sie an die Nacht in Zakos Wohnung denken. Nicht an den leblosen Körper auf dem Sofa; irgendetwas war mit den Fotos auf seinem Handy, sie wusste nur nicht, was … Der Brief von Zakos Vater lag immer noch unter ihrem Bett. Wäre er voll von bitteren Vorwürfen gewesen, hätte sie ihn weggeworfen. Allerdings war seine Dankbarkeit schwer zu ertragen.
»Vor Weihnachten ist etwas in Amsterdam passiert«, sagte sie plötzlich. »Jemand, den ich gekannt habe, ist gestorben. Also eigentlich habe ich ihn mehr als nur gekannt.«
Er sah ihr in die Augen.
»Dein Freund?«
»Ja … in gewisser Weise. Ich habe es verdrängt. Als das mit Mailin geschehen ist …«
Sie füllte ihre Lungen mit Rauch und ließ ihn langsam aus ihrem Mund strömen.
»Gestern habe ich einen Brief von seinem Vater erhalten. Und plötzlich ist alles wieder da.«
Jomar streckte seine Hand nach der Marlboroschachtel aus, die auf dem Geländer lag.
»Kann ich eine nehmen?«
»Nicht wenn das deiner Fußballerkarriere schadet.«
Sie hörte, dass ihre Antwort ein wenig merkwürdig klang, und verlor den Drang,
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