Die Netzhaut
ihm weiter von Zako zu erzählen.
Er zündete sich die Zigarette an.
»Was wolltest du mir erzählen? Von dem Mann, der in Amsterdam gestorben ist.«
»Sprechen wir lieber über deinen Großvater«, entgegnete sie rasch.
»Über meinen Großvater?«
»Als ich bei dir war, hast du von deinen Großeltern erzählt.«
»Du meinst, als wir über den Roman geredet haben?«
Sie nickte.
»Ich muss auf andere Gedanken kommen. Was war das noch in
Abbitte,
das dich an deine Großeltern erinnert hat?«
Er atmete ein paarmal tief durch.
»Dass zwei Menschen füreinander bestimmt sind.«
Liss wandte sich halb von ihm ab. Sie hatte einen Kommentar auf der Zunge, erwiderte aber nichts.
»Mein Großvater war Fischer«, sagte Jomar. »Seine Kindheit hat er in Florø verbracht. An seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag war er in Bergen, um seinen Fisch auszuliefern. Er hat mir erzählt, dass er damals ein paar Stunden freihatte und durch die Fußgängerzone gestreift ist. In einer Bretterbude stand eine Frau, die Kleider verkaufte. Das war während des Krieges. Er ging zu ihr und wusste im nächsten Moment, dass sie seine Frau werden würde.«
»Und deine Großmutter?«, fragte Liss spitz. »Hatte die auch was zu sagen?«
»Die hat’s wohl nach und nach eingesehen.«
Liss musste zugeben, dass ihr die Geschichte gefiel. Sie mochte auch Jomars Art, sie zu erzählen. Dass er sich traute, auf jegliche Ironie zu verzichten.
»Was ist mit deinen Eltern?«, wollte sie wissen. »Ist ihre Geschichte genauso romantisch?«
»Das ist etwas ganz anderes.«
Jomar verstummte.
»Hast du niemals Angst, den Verstand zu verlieren?«, fragte sie einfach so.
Er dachte darüber nach.
»Nein, eigentlich nicht. Es gibt nur sehr wenige Fußballer, die verrückt werden, warum auch immer.«
Er warf die Kippe auf die Straße, stieg eine Stufe nach oben und stellte sich neben sie unter das Vordach. Tu das nicht, dachte sie, als er die Hand hob und ihr über die kalte Wange strich.
*
Draußen war es dunkel geworden. Liss lag auf dem Bett und lauschte der Elster, die anscheinend nicht genug davon bekam, herumzuhüpfen und auf das Dach zu klopfen. Sie glitt in einen Dämmerzustand hinüber. Das Zimmer verändert sich, wird zu einem Raum, in dem sie früher einmal geschlafen hat. Sie versucht aufzuwachen. Da steht Mailin neben ihr, in ihrem gelben Pyjama.
Sie zwang sich aufzustehen, knipste das Licht an, schlug sich mit beiden Handflächen an den Kopf.
»Ich rufe ihn an«, murmelte sie und suchte in ihrer Tasche nach dem Handy.
»Hallo, Liss«, antwortete Tormod Dahlstrøm.
»Entschuldige …«, begann sie.
»Wofür?«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Dafür, dass ich dich neulich mitten in der Nacht geweckt habe.«
Es war ihm sicherlich klar, dass sie ihn nicht anrief, um sich ein weiteres Mal zu entschuldigen. Doch er ließ ihr Zeit, sich zu besinnen. Dann erklärte sie ihm, wie sie begriffen hatte, dass Mailin auf dem Film den Namen eines ungarischen Psychoanalytikers erwähnte.
»Sándor Ferenczi?«, rief Dahlstrøm. »Wie merkwürdig, dass sie ausgerechnet seinen Namen sagt. Ich gehe davon aus, dass du die Polizei darüber informiert hast.«
Liss erzählte von den beiden Vernehmungen. Dass sie beim ersten Mal davongelaufen war.
»Es geschieht etwas mit mir.«
»Wie meinst du das?«
Sie fasste sich ein Herz.
»Früher passierte das öfter. Es ist wie eine Art Anfall. Das ist schwer zu beschreiben. Der Raum, der mich umgibt, wird plötzlich ganz anders, so unwirklich. Das Licht zieht sich zurück, als wäre ich gar nicht da, und dennoch wird alles viel intensiver … Hast du zu tun? Soll ich dich ein anderes Mal anrufen?«
Er versicherte ihr, dass er genug Zeit habe.
»Nachdem ich nach Amsterdam gezogen bin, war es eine Zeitlang verschwunden. Niemand hat mich dort gekannt. Dann fing es wieder an. Direkt bevor Mailin verschwand.«
Es war im Café Alto gewesen, als Zako ihr das Foto gezeigt hatte.
Erzähl ihm davon, Liss. Alles, was passiert ist. Er kann dir sagen, was du tun musst.
Im allerletzten Moment entschied sie sich anders.
»Berger kannte unseren Vater«, sagte sie rasch. »Ich glaube, das war auch der Grund, warum Mailin ihn mehrfach besucht hat.«
Sie wiederholte, was Berger über ihren Vater gesagt hatte.
»Mailin hat mal erzählt, dass sie ihn seit vielen Jahren nicht gesehen hätte«, entgegnete Dahlstrøm.
»Erinnerst du dich an ihn?«
Liss atmete tief durch.
»Ich kann mich fast gar nicht an
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