Die Netzhaut
meine Kindheit erinnern. Ist das nicht unnormal?«
»Das Erinnerungsvermögen von Menschen ist sehr verschieden.«
»Aber bei mir ist die Erinnerung wie abgeschnitten … und plötzlich tauchen Dinge wieder auf.«
Plötzlich begann sie, vom Schlafzimmer in Lørenskog zu sprechen. Wie Mailin die Tür abschloss und zu ihr unter die Decke kroch. Vom Hämmern an der Tür.
»Hat sie dir etwas davon erzählt?«, fragte sie ihn.
»Nein«, antwortete Dahlstrøm. »Wir haben uns nie über eigene mögliche Traumata unterhalten. Ich wusste zwar, dass Mailin, wie die meisten von uns, eine Last mit sich herumtrug, und habe ihr zu einer eigenen Therapie geraten. Aber dazu hat sie sich nicht mehr entschließen können.«
Er hielt inne, ehe er fortfuhr: »Erzähl mir das mit dem Schlafzimmer bitte noch mal, so detailliert wie möglich.«
Liss schloss die Augen. Tauchte in die Erinnerung ein. Mailin im blauen Pyjama, der auch gelb sein konnte. Vielleicht flossen mehrere Erinnerungen ineinander. Mailin, die ihre Arme um sie schlingt.
Ich werde auf dich aufpassen, Liss. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas Böses geschieht.
Sie hat noch etwas gesagt … etwas mit Mama.
Liss löschte das Licht, lauschte ins Dunkel. Von dort kam Mailins Stimme zu ihr:
Du darfst niemand davon erzählen, Liss. Auch nicht Mama. Sie würde es nicht ertragen, wenn sie es wüsste.
31
O dd Løkkemo schwenkte auf die Tankstelle in Kløfta ein. Die Benzinanzeige war schon fast auf Rot, aber in den Reservetank passten mindestens acht Liter, und es waren nicht mehr als vierzig Kilometer bis nach Hause. Doch allein der Gedanke, im dunklen Januar auf der E 6 liegen zu bleiben, jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Sein Bedürfnis, mehrere Kilometer auf dem glatten Randstreifen mit einem Benzinkanister in der Hand zurückzulegen, hielt sich in Grenzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommen würde, war zwar gering, sagte er sich, die Konsequenzen jedoch umso größer. Schon seit Minnesund hatten ihn diese Gedanken nicht mehr losgelassen.
Er warf einen Blick auf sein Handy, ehe er ausstieg. Keine Nachrichten. Er hatte Elias zwei SMS geschickt, um sein Kommen anzukündigen. Das Mindeste, was er verlangen konnte, war eine Antwort. Es war zwar nicht so abgesprochen, doch ihr stillschweigendes Abkommen lautete, dass er sich fernhalten sollte, bis Elias ihm signalisierte, dass er wieder nach Hause kommen konnte. An den Tagen, an denen Elias abends ins Fernsehstudio musste, machten sie das immer so. Dann brauchte er das ganze Haus für sich. Konnte niemanden um sich haben, schon gar nicht Odd. Nach der Sendung sah alles anders aus. Dann war er wie ein kleiner Junge, den man hätscheln und tätscheln musste, und Odds Bedeutung in seinem Leben schien plötzlich grenzenlos.
Doch war die heutige Liveübertragung von
Tabu
bestimmt nicht der einzige Grund, warum Elias ihn am Nachmittag aus dem Haus haben wollte. Odd war sicher, dass er Besuch erwartete. Denselben Besuch, den er bereits seit Wochen empfing. Früher einmal hatten sie solche Geheimnisse miteinander geteilt, doch inzwischen war Elias nicht mehr dazu bereit. Odd drückte auf den Knopf, auf dem »Kassenzahlung« stand. Hatte keine Lust, mit Kreditkarte zu bezahlen. Oft spuckte der Automat keine Quittung aus, und dann konnte er nicht mehr kontrollieren, für welchen Betrag er getankt hatte. Endlich vibrierte es in seiner Hosentasche. Er wollte gerade die Zapfpistole zurück in die Halterung hängen, beherrschte sich aber und behielt weiter das Zählwerk im Auge, die Anzahl der Liter, den Betrag in Kronen. Allmählich kroch die Anzeige auf sechzig Liter zu, womit der Tank voll wäre, doch es ging so langsam, dass Odd den Verdacht hegte, etwas sei mit der Pumpe nicht in Ordnung. Dennoch wartete er darauf, dass es in der Tankpistole einen kleinen Ruck gab. Er wusch sich auf der schmuddeligen Toilette – wo es keine Papiertücher gab und die Klopapierrolle ausgerollt bis zum Waschbecken auf dem Boden lag – den Benzingeruch von den Händen, bezahlte das
Dagbladet
und die Salmiakpastillen bei dem halbwüchsigen Mädchen, das ihn keines Blickes würdigte – er wurde übersehen, war unsichtbar geworden, seit wann eigentlich? –, und zwängte sich wieder ins Auto. Erst dann zog er sein Handy aus der Tasche und las die SMS von Elias:
Komm bitte erst in anderthalb Stunden!
Er kämpfte mit dem Drang, sofort bei ihm anzurufen. Ihn anzubrüllen, dass er kein Recht habe, ihm vorzuschreiben,
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