Die Netzhaut
wann er in
seine
Wohnung zurückkehren dürfe. Nein, so tief wollte er nun doch nicht sinken, dass er Elias an die eigentlichen Besitzverhältnisse erinnerte. Vor ein paar Jahren hatte er dies schon einmal getan, was damit geendet hatte, dass Elias ausgezogen war und er ihn zur Rückkehr hatte überreden müssen.
Odd schaltete das Deckenlicht an und blätterte sich durch das
Dagbladet
. Er wollte den Motor nicht so lange im Leerlauf lassen, doch wenn er ihn ausschaltete, wurde es zu kalt. Also ging er hinein und setzte sich an einen der Kaffeetische am Fenster. Erneut nahm er sich
VG
vor, die er bereits gelesen hatte. Nachdem er sie am Morgen zusammen mit ein paar Croissants gekauft hatte, war er sofort zu Elias gestürmt, hatte sich auf seine Bettkante gesetzt und ihn geweckt, indem er mit lauter Stimme die Überschrift vorlas: »Enthüllt Berger heute Abend den Mörder in
Tabu?
«
Odd war es gewohnt, dass die Medien Elias große Aufmerksamkeit zollten.
Tabu
war das erfolgreichste Fernsehformat, das er je geschaffen hatte. Natürlich nicht in qualitativer, sondern in kommerzieller Hinsicht. Elias war immer jedes Mittel recht gewesen, um Aufsehen zu erregen. Doch die tote Mailin Bjerke als Köder für sein sensationshungriges Publikum zu benutzen sei selbst für ihn, der stets die üblichen Grenzen überschritt, ein starkes Stück, meinte Odd. Aber auf diesem Ohr war Elias taub. »Das ist kein Köder, sondern schlicht und einfach die Wahrheit. Selbst du, Odd, der du glaubst, alles zu wissen, wirst einen Schock bekommen.«
Mehr wollte er nicht sagen.
Es war zehn nach halb acht, als Odd in die Løvenskiolds gate einbog. Während er auf der Suche nach einem Parkplatz durch die umliegenden Straßen rollte, fuhr er an Elias’ Wagen in der Odins gate vorbei und stellte fest, dass Elias ihn auch heute Abend hatte stehen lassen. Es war mindestens eine Woche her, seit er ihn das letzte Mal benutzt hatte, was in Anbetracht seines derzeitigen Zustands beruhigend war. Sie hatten darüber gesprochen, den BMW zu verkaufen. Eigentlich brauchten sie neben Odds Peugeot keinen zweiten Wagen. Wenn zwei Menschen gemeinsam ein Auto haben, bedeutet das etwas, dachte Odd, und jetzt mehr als je zuvor.
Er schloss auf und betrat den Flur. Der Geruch nach frisch gebackenem Brot machte ihn froh. Am Vormittag, bevor er gefahren war, hatte Odd den Teig zubereitet. Elias sollte ihn nachher in den Ofen stellen. Es war beruhigend zu wissen, dass er selbst heute daran gedacht hatte. Im Badezimmer tröpfelte es. Er ging hinein und drehte den Hahn der Badewanne ganz zu, doch es half nichts. Dann blieb er stehen und lauschte. Es kam selten vor, dass es so still im Haus war. In vieler Hinsicht war es schön, nach Hause in solch eine Stille zu kommen. Es war eine Form von Respekt, dass Elias ihn gebeten hatte, noch etwas zu warten. Dann blieb es ihm jedenfalls erspart, ihn gemeinsam mit einem dieser jungen Kerle vorzufinden. »Die sind nötig, um mich am Leben zu halten«, sagte Elias stets. »Und was ist mit mir?«, hatte Odd neulich gefragt. »Du musst mich nicht am Leben halten, Odd. Du sollst dafür sorgen, dass ich mit einem Minimum an Würde sterben kann.« Dann lachte er, wie immer, wenn er der Wahrheit allzu nahekam.
Odd öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Elias saß auf seinem Schreibtischstuhl. Der Kopf war ihm in den Nacken gefallen. Der Bildschirmschoner seines Laptops verbreitete ein trübe flackerndes Licht. Der dünne Morgenmantel aus japanischer Seide war zur Seite gerutscht und entblößte die Brust und sein Geschlecht. Odd seufzte und dachte, dass er im Fernsehstudio anrufen musste, um ihnen mitzuteilen, dass die heutige Sendung ausfiele. Er verspürte eine Erleichterung bei diesem Gedanken, denn diesmal war Elias wirklich zu weit gegangen. Hatte Erwartungen geschaffen, denen er nicht gerecht werden konnte. Das alles wäre nur peinlich und erniedrigend geworden.
Er ging zu ihm, beugte sich hinab und strich Elias über die Wange. Erst in diesem Moment sah er seine weit geöffneten Augen. Ihr Blick richtete sich nicht auf ihn, sondern starrte in eine unendliche Leere.
32
E s hatte zu regnen begonnen, als Roar sein Auto in der Odins gate abstellte. Als er um die Ecke bog, schlug ihm der Regen wie ein Peitschenknall ins Gesicht. Er stellte den Pelzkragen seiner Lederjacke hoch.
Das Gebiet um den Eingang war abgesperrt. Davor drängelten sich ein Haufen Leute, darunter einige Journalisten inklusive Kamerateams. Doch bei den meisten
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