Die Netzhaut
musste, was sie ihm an jenem Morgen, als sie ihn in der Tiefgarage angerufen hatte, erzählen wollte.
Als letzten Sargträger erkannte Roar Mailins Betreuer, denn Tormod Dahlstrøm war einer dieser renommierten Psychiater, die zu allen Fragen des Lebens, ob privater oder politischer Natur, stets eine Antwort wussten. Liss schritt neben ihrer Mutter, die fast einen Kopf kleiner war als sie, hinter dem Sarg her und blickte zu Boden. Hinter ihnen schlossen sich andere der Prozession an. Ältere Menschen, Kinder, Erwachsene. Roar erkannte ein paar vertraute Gesichter aus Lillestrøm, unter ihnen ein vielversprechender Fußballer aus der ersten Liga. Ihm fiel auf, dass Mailin Bjerke Verbindungen zu den unterschiedlichsten Menschen gehabt hatte, und obwohl er ihr nie persönlich begegnet war, spürte er, wie die Trauer, die im Raum herrschte, auch ihn erfasste.
Draußen hatte sich die Sonne einen Weg durch die dünnen Risse in der Wolkendecke gebahnt. Der Sarg war in den Leichenwagen geschoben worden. Dahinter versammelten sich in aller Stille mehrere hundert Menschen. Dem Wagen am nächsten stand der Stiefvater, der Mailins Mutter umfasst hielt. Einen Meter neben ihnen Liss und Viljam. Ein Vogel begann in einem Baum zu zwitschern; eine Kohlmeise, wie Roar feststellte. Sie klang, als wäre es bereits Frühling.
Als sich der Wagen in Bewegung setzte, riss die Mutter sich los und lief hinter ihm her. Roar hörte sie rufen, vermutlich den Namen ihrer Tochter. Sie holte den Wagen ein, er blieb stehen. Sie versuchte, die Heckklappe zu öffnen. Der Stiefvater und einige andere folgten ihr. Er fasste sie am Arm, doch sie umklammerte weiterhin den Griff der Heckklappe. Ihre Rufe waren zu einem langgezogenen, unverständlichen Schreien geworden. Roar musste dabei an Emily denken, wenn sie manchmal allein im Dunkeln erwachte.
Lange blieben sie stehen und hielten Ragnhild Bjerke umfasst, bevor sie endlich den Griff losließ. Der Wagen rollte langsam zum Tor hinaus und bog auf die alte Landstraße ab.
Ich sitze immer noch in dem Zimmer, das Du gerade verlassen hast. Der Staub hat sich wieder auf den Wohnzimmerboden gelegt, während draußen der Wind aufgefrischt hat. Was ich Dir alles erzählt hätte, Liss, wärst Du nicht davongelaufen. Du hattest keinen Grund zu bleiben. Vielleicht hast Du Angst vor mir bekommen. Angst, ich könnte Dir etwas antun. Du schuldest mir nichts. Aber ich muss dies fertigschreiben, nicht um etwas zu gestehen, sondern weil es erzählt werden muss.
Nachdem ich Jo an jenem Abend davon abgehalten hatte, ins offene Meer zu gehen, habe ich ihn mit zu mir genommen, fort vom Strand. Seine Eltern waren die ganze Zeit betrunken und unberechenbar. Er hatte niemand, der sich um ihn kümmerte. Ich nahm ihn mit in meine Wohnung. Er fror, und ich habe ihn unter die Dusche geschickt.
Willst du nicht auch duschen?
, fragte er. Er war zwölf Jahre alt, Liss, und ich weiß, dass er keine Verantwortung für das trug, was dann geschah
.
Danach habe ich ihn zum Reden gebracht. Es war etwas mit dem Mädchen, dieser Ylva, geschehen, und auch etwas mit einer Katze. Er war heftig verliebt in diese Ylva und rasend vor Wut auf sie, weil sie mit einem anderen Jungen zusammen war. Ich habe lange mit ihm darüber geredet und ihm versprochen zu helfen. Früher oder später würde Ylva seine Freundin werden, das musste ich ihm schwören. Als er mitten in der Nacht meine Wohnung verließ, war ich mir sicher, dass er nicht ein weiteres Mal versuchen würde, sich zu ertränken. Und das wurde zu einem Wendepunkt für mich. Dass er überleben würde. Nicht nur diese Ferienreise, sondern auch alles, was danach kommen würde. Darum musste ich ihn erneut treffen; das wusste ich, als ich ihn an jenem Morgen, an dem sie nach Norwegen zurückkehrten, in den Bus steigen sah … Natürlich nicht nur deswegen. Ich streifte ziellos durch dieses unfruchtbare Land, fühlte mich immer noch wie ausgetrocknet. Es war der Durst, der mich wieder zu ihm trieb. Es war verboten. Aber es rettete mich. Ein paar Tropfen Wasser sind alles, was ich brauche, sagte ich mir, und Jo brauchte sie genauso wie ich. Es tat ihm gut, wenn wir zusammen waren. Doch er vergaß nie, was ich über das Mädchen gesagt hatte, dem er auf Kreta begegnet war. Stets erinnerte er mich an mein Versprechen: dass ich ihm zeigen würde, wie er an sie herankommen konnte. Dass ich ihm beibringen würde, was er wissen musste. Ylva war die Prinzessin, die Prinz Jo erobern wollte.
Weitere Kostenlose Bücher