Die Netzhaut
Obwohl er inzwischen vierzehn war, war es immer noch ein Spiel. So wie auch unser Pakt ein Spiel war. Zu einem Kind kann man sagen: Lieber sterben als irgendjemand zu erzählen, dass wir zusammen sind. Diesen heimlichen und heiligen Bund besiegelten wir mit unserem Blut, nachdem wir uns die Handflächen aufgeritzt hatten. Und sein kindlicher Eifer erweckte in mir die Ahnung einer längst vergessenen Freude. Wie Tropfen, die mich daran erinnerten, dass es auch in meiner Ödnis irgendwo Wasser gab.
Habe ich nicht begriffen, wie sehr er bereits geschädigt war? Auch nicht, als er mir erzählte, er könne sich in einen anderen verwandeln, in jemand, der in einem dunklen Keller steht und seinen Hammer schwingt? Habe ich nicht verstanden, dass die Spiele, mit denen wir uns vergnügten, für ihn viel mehr waren, dass sie zu den Geschichten wurden, um die sein Leben kreiste, die alles in Gang hielten? Habe ich es nicht einmal in dem Moment verstanden, als ich Jahre später in der Zeitung von einer jungen Frau las, die in Bergen tot aufgefunden worden war? Reagierte ich nicht einmal, als ich ihren Namen las?
1
Freitag, 16. Januar
V iljam war gegen zwei Uhr zurück. Liss saß im Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster, ihr Notizbuch im Schoß. Sie hörte, dass er seine Einkäufe in den Kühlschrank einräumte und die leeren Plastiktüten unter der Spüle verstaute. Danach seine Schritte auf der Treppe.
»Ich hab das Essen für nachher vorbereitet, isst du heute hier?«
Sie zuckte die Schultern.
»Der Fußballer hat mich eingeladen.«
»Ist es nicht langsam Zeit, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen?«, fragte Viljam mit einem Lächeln. Und Liss fragte sich, was wohl Mailin empfunden haben musste, wenn er so lächelte. Etwas Intensives, Freude oder Trauer.
Er legte einen Zettel vor ihr auf den Tisch. »Könnte doch sein, dass er aufgibt, wenn du weiterhin so tust, als würde er dir überhaupt nichts bedeuten.«
Sie nahm den Zettel in die Hand. Es war eine Benachrichtigung der Post, dass sie ein Päckchen aus Amsterdam bekommen hatte. Hol es nicht ab, schoss es ihr durch den Kopf. Seit dem Begräbnis war es ihr mehr oder weniger gelungen, das, was damals in der Bloemstraat geschehen war, auf Distanz zu halten. Doch es bedurfte nur einer Postsendung, um ihre Gedanken wieder ins Rollen zu bringen. Den Brief von Zakos Vater hatte sie weggeworfen, aber an manches, was darin gestanden hatte, erinnerte sie sich Wort für Wort.
Du musst aufräumen, Liss.
So hätte Mailin das gesagt.
Aufräumen und weitergehen.
Wäre Mailin hier, hätte sie ihr auch sagen können, wohin.
»Das ist doch das Postamt am Carl Berners plass, oder?«, fragte sie.
»Ja. Wenn du willst, kann ich das Päckchen für dich abholen. Muss mich sowieso noch ein bisschen bewegen, ehe ich zur Arbeit fahre.«
Er lehnte sich ans Treppengeländer. Vielleicht wartete er darauf, dass sie noch etwas sagte.
»Viljam, ich habe seit Weihnachten fast jede Nacht hier geschlafen. So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt.«
Er richtete sich auf und sah ihr in die Augen.
»Es hilft mir, wenn du hier bist. Ohne dich wäre alles noch viel schlimmer.«
Sie wäre am liebsten auf ihn zugegangen und hätte ihn an sich gedrückt. Um Mailin so nahe wie möglich zu sein.
Eine halbe Stunde später schaute er noch einmal zu Hause vorbei und gab ihr ein Päckchen im DIN -A4-Format. Sie legte es auf den Küchentisch, ging nach draußen auf die Treppe und zündete sich eine Zigarette an. Rauchte sie bedächtig, während sie zusah, wie sich die Dämmerung über die Dächer senkte. Erwog, das Päckchen ungeöffnet in den Müll zu werfen. Ich werde nie mehr dorthin zurückkehren, dachte sie. Muss Rikke benachrichtigen, dass sie mir keine Post mehr nachschicken soll, und sie bitten, meine Kleider der Heilsarmee zu überlassen. Die Filme und den Ohrensessel kann sie behalten.
Im Päckchen lagen zwei Briefe von der Hochschule, eine Nachnahmesendung und ein paar Rechnungen. Die Antwort einer Modellagentur. Wim hatte versprochen, mit ihr was auf die Beine zu stellen. Dieses eine Mal schien er es ernst gemeint zu haben. Sie zerriss den Brief ungelesen und nahm einen gefütterten Umschlag, der ganz unten lag. Ihr Name stand in blauer Tinte darauf. Sie erkannte Mailins schräge, kleine Buchstaben. Der Umschlag trug den Poststempel vom 10. Dezember, dem Tag vor ihrem Verschwinden. Liss’ Hände zitterten so sehr, dass sie den Umschlag nicht aufbekam und ein Messer aus der
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