Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
Vom Netzwerk:
kontrollieren. Alles, was sich aufgestaut und was sie unbewusst zurückgehalten hatte, brach jetzt aus ihr heraus. Irgendwo in ihren Gedanken, jenseits dieser Wut, die immer größere Kraft entwickelte, hoffte sie, er möge auflegen, um all dem Dreck zu entgehen, den sie ihm entgegenschleuderte. Doch er legte nicht auf.
    Allmählich ließ ihr Zorn nach, wie der Krampf nach einer Entladung. Es gelang ihr, die Wut wegzusperren und in so kleine Portionen aufzuteilen, dass sie sie einzeln hinunterschlucken konnte. Schließlich saß sie da und wiegte den Oberkörper vor und zurück. Das erste Gefühl, das sich ihrer jetzt bemächtigte, würde sie überwältigen, ob es nun die Wut war, die zurückschlug, oder die Trauer, die sie nie wieder verlassen würde.
    »Tut mir leid«, sagte Jomar.
    Nun musste sie lachen. Das Lachen erfasste ihren Bauch und ihren Hals und löste alles, was in ihr beweglich war. Es war ohne jede Freude. Nur eine andere Spielart ihres inneren Aufruhrs. Sie sah sich selbst auf dem Flur liegen, ihr Rock war hochgerutscht, ihr Unterleib unter dem hauchdünnen Stoff entblößt, das Make-up zerfloss in ihrem leeren Gesicht.
    »Das war dumm von mir«, versuchte er es erneut. »Ich kann dir alles erklären.«
    Auch das war ein Zitat. Vielleicht war es unmöglich, etwas zu sagen, ohne zu zitieren, dachte sie, während sie dalag.
    »Du musst nichts erklären.«
    Er hörte nicht zu.
    »Ich wollte dich nicht anlügen, aber du hast nie direkt gefragt, und ich war einfach nicht in der Lage, darüber zu sprechen. Vielleicht war es mir auch peinlich. Da ich beim ersten Mal nichts darüber gesagt habe, konnte ich auch später nichts sagen.«
    Sein Bedauern schien echt zu sein. So echt, dass sie ihn weiterreden ließ.
    »Ich hatte vor einigen Jahren ein paar Termine bei ihr, nachdem sie ihre Vorlesung an der Sporthochschule gehalten hatte. Es ging mir damals nicht gut. Familienprobleme. Ich war vier oder fünf Mal bei ihr. Sie hat mir geholfen, ich …«
    »Komm endlich zur Sache.«
    »Als wir uns damals voneinander verabschiedeten, haben wir vereinbart, dass ich jederzeit zu ihr Kontakt aufnehmen könnte, wenn ich Bedarf hätte. Und vor ein paar Monaten habe ich jemand gebraucht, mit dem ich reden konnte. Ich war zwei Mal bei ihr. Wollte noch mal vorbeikommen, aber dann ist das passiert …«
    »Ich muss jetzt auflegen«, sagte sie.
    »Kommst du noch?«
    »Nein.«
    »Wir können auch zu mir gehen, und ich besorge uns was zu essen.«
    Der Vorschlag ließ ihre glimmende Wut wieder aufflammen.
    »Es geht nicht«, sagte sie so ruhig wie möglich.
    »Was geht nicht?«
    »Das mit uns beiden.«
    Er schwieg. Dann sagte er:
    »Ich will, dass du weißt, was mit mir geschehen ist, nachdem ich dich getroffen habe. Können wir uns treffen und darüber reden?«
    Sie stand auf.
    »Ich muss für ein paar Tage verschwinden. Weg aus der Stadt.«
    »Heute Abend? Meinst du etwa die Hütte, von der du erzählt hast?«
    Sie antwortete nicht.
    »Treffen wir uns, wenn du zurück bist?«
    Sie legte auf.

3
    D en ganzen Tag über war schwerer, nasser Schnee gefallen. Die Europastraße war spiegelglatt. Liss musste sich dazu zwingen, langsam zu fahren, obwohl kaum Verkehr war. Aber langsames Fahren machte sie nervös, deshalb setzte sie den Kopfhörer ihres iPods auf und versuchte es mit elektronischer Musik, die sie früher einmal gemocht hatte. Nach ein paar Minuten ging ihr die Musik auf die Nerven, und sie warf den iPod auf den Beifahrersitz.
    Sie hatte sich ein Bild von Jomar Vindheim gemacht und sich eingebildet, dass er jemand war, der sagte, was er dachte, und hielt, was er versprach. Jemand, dem man vertrauen konnte, der nicht log und so war wie sie.
    Sie bog von der E 6 ab. Hier war der Untergrund noch glatter. Bergauf musste sie in den zweiten Gang zurückschalten, doch jetzt machte es ihr nichts aus, langsam zu fahren. Schon hier spürte sie die Ruhe, die von der Hütte am Morrvann ausging. Felder und Waldstücke glitten an ihr vorbei, schneebedeckt, lautlos … Dass Jomar Mailin gekannt hatte, ihr Patient gewesen war, machte ihn zu einem anderen. Es wäre für sie in dem Fall einfacher gewesen, herauszufinden, was er verbarg, und es unter Kontrolle zu bringen. Oder sie hätte ihn noch heftiger beschimpfen können, sodass er keine Lust mehr verspürte, sie wiederzusehen. Sie hätte ihm sagen können, dass sie getötet hatte.
     
    Vom Parkplatz in Bysetermosan bis hinauf nach Vangen war der Waldweg geräumt. Doch als sie die

Weitere Kostenlose Bücher