Die Netzhaut
Stelle erreichte, an der der Trampelpfad abging, musste sie ihre Schneeschuhe anschnallen. Hier war der Schnee leichter und trockener als in der Stadt. Unter der frischen Oberfläche lag eine Schicht mit verharschtem Altschnee. Sie stapfte in den Wald hinein, blieb stehen und lauschte. Mailin hatte ein Grab bekommen, an dem Liss eine Kerze anzünden und Rosen in einen Krug stellen konnte. Doch hierher wollte sie gehen, wenn sie ihrer Schwester nahe sein wollte.
Sie musste mit den Schneeschuhen den Schnee von der Tür zum Schuppen wegschaufeln. Dann nahm sie einen Spaten, arbeitete sich auf die Veranda vor und hatte schließlich die Tür zur Hütte freigelegt. Es tat gut zu spüren, wie der Schweiß den Rücken hinunterlief, und die Dinge zu tun, die getan werden mussten, wenn man zur Hütte kam. Feuer im Kamin und im Ofen zu machen, einen Trampelpfad hinunter zum Wasser anzulegen, den Eimer in die Rinne im Eis unter dem Fels zu senken. Als sie mit dem Eimer Wasser zurückkam, zog sie sich aus und lief nackt in den Schnee hinaus, rieb sich damit ein, legte sich auf den eiskalten Boden und rollte ein paarmal hin und her. Ihr Rücken wurde ganz taub, und sie spürte, wie der Kälteschmerz von den Beinen langsam nach oben kroch. Danach rubbelte sie sich mit einem Frotteehandtuch ab, bis sie rote Flecken auf der blassen Haut bekam, hüpfte und tanzte ein paar Minuten durchs Zimmer, bevor sie sich auf den Stuhl vor dem Kamin fallen ließ. Dort blieb sie sitzen und starrte ins Feuer.
Du hast mir das beigebracht, Mailin, die Wärme aus seinem eigenen Körper zu holen. Nicht zu warten, bis jemand kommt und sie einem gibt.
In ihrem Notizbuch waren nur noch wenige freie Seiten.
Alles, was hier steht, habe ich an dich geschrieben.
Erneut dieser seltsame Gedanke, dass ihre Schwester auf irgendeine Weise lesen konnte, was dort stand. Als wäre dieses kleine Notizbuch die Schwelle zu dem Ort, an dem sich Mailin jetzt befand. Sie beschrieb jene Nacht in der Bloemstraat bis ins kleinste Detail. Alles, was geschehen war. Alles, was sie getan hatte.
Als sie damit fertig war, nahm sie die Flasche Rotwein aus ihrem Rucksack und holte zwei Weingläser aus dem Schrank. Erst als sie in der Küchenschublade wühlte, bemerkte sie, dass der Korkenzieher nicht da war. Schon am Abend vor Weihnachten hatte sie sein Fehlen bemerkt, dann aber nicht mehr daran gedacht, einen neuen mitzunehmen.
Es passte nicht zu Mailin, Dinge mitzunehmen, ohne sie zu ersetzen. Ganz unten auf die vorletzte Seite ihres Notizbuchs schrieb sie:
Denk dran, Korkenzieher ist weg.
Sie nahm die Öllampe mit zum Regal, um sich ein Buch auszusuchen. Am besten eines, das sie schon einmal gelesen hatte, eines, über dem sie einschlafen konnte, ehe sie auf Seite fünf angekommen war. In der Mitte der Reihe standen die Bücher ein wenig heraus. Mailin pflegte sie immer so anzuordnen, dass ihre Rücken eine gerade Linie bildeten. Sie ging hin und wieder durch die Hütte und nahm solche kleinen Korrekturen vor und brachte Liss dazu, die Dinge wegzuräumen, die sie achtlos hingeworfen hatte. Die kleinen Glasfiguren über dem Kamin ordnete sie symmetrisch an oder brachte sie in eine logische Reihenfolge. Mailin liebte es, Ordnung zu schaffen, ohne sich am Chaos der anderen zu stören.
Liss nahm einen Krimi aus dem Regal, den sie als ziemlich langweilig in Erinnerung hatte, warf ihn aufs Sofa und legte beide Handflächen an die Buchdeckel, um sie zu begradigen. Doch sie ließen sich nicht weiter nach hinten schieben. Fest dazu entschlossen, Mailins Ordnungsgeist walten zu lassen, nahm sie sechs, sieben Bücher heraus. Etwas lag dahinter und versperrte den Platz. Es war ein Buch, das umgefallen war, ein relativ dünnes Taschenbuch. Liss bekam es zu fassen, fischte es heraus und hielt es ans Licht.
Sándor Ferenczi,
las sie.
The Clinical Diary of Sándor Ferenczi.
4
Z wischen den Fahrbahnen lag ein Schneewall, und jedes Mal wenn Roar Horvath ihm zu nahe kam, rutschte der Wagen ein Stück zur Seite. Er drosselte die Geschwindigkeit und gewann die Kontrolle wieder.
Die Nachrichten waren vorbei, also wechselte er zum CD -Spieler. Darin lag eine alte Pink-Floyd-Scheibe, er drehte auf volle Lautstärke. Es war Freitagabend, und er war seit dem frühen Morgen im Büro gewesen. In den letzten Nächten hatte er furchtbar schlecht geschlafen. Momentan war er damit beschäftigt, jede einzelne Vernehmung im Mordfall Mailin Bjerke erneut durchzugehen. Er fühlte sich wie ein
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