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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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mit dem Stift auf den Umschlag.
    »Erzählen Sie mir alles, woran Sie sich in diesem Zusammenhang erinnern. Absolut alles.«
    »Ich habe Ihnen schon alles erzählt.«
    »Wie hat Ylva reagiert?«
    »Sie war außer sich vor Wut. Wir hatten damals selbst eine Katze. Und dann hat sie etwas gesagt …«
    Als Anne Sofie Richter innehielt, wiederholte Roar: »Dann hat sie was gesagt?«
    »Es hing mit einem Jungen zusammen, der mit seiner Familie in derselben Ferienanlage wohnte wie wir. Er war in Ylvas Alter. Sie fand ihn sehr merkwürdig und hat alles getan, um ihm aus dem Weg zu gehen. Ich weiß nicht genau, warum, aber Ylva hat sofort gesagt, dass sie wüsste, wer das getan hatte. Wir haben daraufhin nachgefragt, und da erzählte sie von diesem Jungen. Sie konnte es natürlich nicht mit Sicherheit sagen, weil sie nichts gesehen oder gehört hatte. Dieser Junge wohnte direkt neben uns. Es war eine schreckliche Familie, die Eltern waren ständig betrunken und haben randaliert, die Kinder völlig verwahrlost. Ich habe so etwas noch nie erlebt …«
    »Wissen Sie noch, wie der Junge hieß?«
    »Das war ein kurzer Name, Roy oder Bo oder so.«
    »Können Sie sich noch genauer an die Familie erinnern?«
    Nein, das konnte sie nicht, und er versicherte ihr, dass dies nach über zwölf Jahren auch kein Wunder sei.
    »Aber ich habe mit meinem Mann darüber geredet, und er überlegte, wie ihr Name gewesen sein könnte. Sie wissen ja, wie das ist. Wenn sich jemand so schrecklich benimmt, dann verbindet man mit dem Familiennamen etwas Abstoßendes und kann sich besser daran erinnern.«
    Auf dem Umschlag war kein Platz mehr. Roar fand einen Parkschein in seiner Tasche und kritzelte darauf die Namen, die Ylva Richters Vater vorgeschlagen hatte. Nachdem ihr Gespräch beendet war, starrte er fast eine halbe Minute lang auf einen der Namen. Dann griff er zu seinem Handy und suchte eine ganz bestimmte Telefonnummer.

5
    D er Wind hatte aufgefrischt. Liss hatte lange regungslos dagesessen und ins Kaminfeuer gestarrt. Nun war das Feuer erloschen, doch in dem kleinen Raum war es immer noch so warm, dass sie kein Holz mehr nachlegte.
    Die Glut veränderte sich ständig, mal leuchtend orange, dann langsam schwarz werdend, ehe sie erneut aufglimmte. Ein Bild tauchte vor ihr auf, sie wusste nicht, ob es eine Erinnerung war. Sie knieten beide vor dem Kamin, Mailin und sie.
Da steht ein kleines Männlein zwischen den Holzscheiten.
Es war die Stimme ihres Vaters. Ein Kobold?
Ja, ein Kobold. Er bläst und bläst in die Glut, denn wenn sie erlischt, ist auch er für immer verschwunden.
    Sie griff erneut nach der Weinflasche, versuchte, den Korken durch den Hals zu pressen. Gab es auf und ging in die Küche, kletterte auf einen Stuhl und fand ganz hinten im oberen Hängeschrank zwei Fläschchen. Die eine enthielt Wodka, die andere war halb mit Eierlikör gefüllt. Sie hatte Wodka noch nie gemocht, schenkte sich aber einen kleinen Schluck ein. Obwohl der Geschmack ekelhaft war, brannte es angenehm im Hals und im Magen. Danach holte sie die Tüte mit Lebensmitteln aus ihrem Rucksack. Eine Packung Knäckebrot und einen Apfel, Aufschnitt wollte sie nicht. Sie lehnte sich an die Arbeitsplatte, kaute, spülte mit dem Rest des Wodkas nach. Das Geräusch des Knäckebrots, das abbrach und zwischen ihren Zähnen zermalmt wurde. Das Pfeifen des Windes im Schornstein.
    Plötzlich zweifelte sie an dem, was sie in dem Buch gelesen hatte, das im Regal versteckt gewesen war. Sie nahm es erneut zur Hand und ließ sich wieder auf den Stuhl vor dem Kamin sinken. Auf der Rückseite stand etwas über den Autor. Sándor Ferenczi hatte gegen die professionelle Heuchelei angekämpft und galt selbst als verwundbar und selbstkritisch. Zum wiederholten Male blätterte Liss das Buch durch. Weder Unterstreichungen noch Randnotizen. Das Buch sah aus, als wäre es gerade erst gekauft worden. Mailin hatte es mitgenommen, um es hier zu lesen.
    Liss kam zu der Seite ungefähr in der Mitte des Buches, wo am unteren Rand ein paar Buchstaben zu erkennen waren, die jemand unter den gedruckten Text gekritzelt hatte. Sie hob die Lampe und betrachtete erneut die eckige Schrift: »Ylva und Jo«. Die Buchstaben waren verschmiert, vermutlich waren sie mit einem verkohlten Stück Holz geschrieben worden. Plötzlich sah sie wieder den Körper ihrer Schwester in der Kapelle vor sich. Die wächserne Haut, die faltigen Hände. Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, die rußgeschwärzt waren. So

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