Die Netzhaut
war es gewesen: Genau hier hatte Mailin gesessen, unmittelbar vor ihrer Ermordung. Sie hatte ein Stück Kohle aus dem Kamin genommen … Liss blätterte zur nächsten Seite. Dort stand der Rest, den ihre Schwester in aller Eile zu Papier gebracht hatte: »Ylva Richter und Johannes Viljam Vogt-N«.
*
Sie schlug den Flaschenhals an der Kante der Spüle ab, opferte eines ihrer T-Shirts und benutzte es als Sieb, indem sie den Wein durch den Stoff in einen Krug goss. In dem burgunderfarbenen Fleck blieben winzige Glassplitter hängen. Das erste Glas leerte sie in einem Zug. Das zweite nahm sie mit zum Kamin. Sie schlug ihr Notizbuch auf.
Heißt Viljam eigentlich Johannes Viljam?
Ylva und Jo.
Sie erinnerte sich daran, dass der Name Ylva auf der CD erwähnt wurde. Im Gespräch mit dem achten Patienten.
Taucht Viljam in deinen Unterlagen als Jo auf?
Dann war Viljam dein Patient. Warum hat er nie etwas davon gesagt?
Ylva Richter.
Der Name sagte ihr etwas. Aber was? Hatte sie ihn irgendwo gelesen? Jemand, den Mailin gekannt hatte?
Warum hast du ihren Namen in das Buch geschrieben, das du dabeihattest? Warum hast du mit Kohle geschrieben und das Buch danach versteckt? Warum war der Name des Autors das Letzte, was du in der Fabrikhalle gesagt hast? Warum hast du überstürzt die Hütte verlassen, ohne den Kamin sauber zu machen? Warum wolltest du dich mit Berger treffen, Mailin? Du wusstest doch, dass dies gefährlich ist. Du bist nicht wie ich, du passt immer auf, wohin du gehst.
Sie blieb noch eine Zeitlang sitzen und sah dem Überlebenskampf des Kobolds in der Glut zu.
War Viljam dein Patient, bevor ihr ein Paar wurdet?
Hilfe suchen. Leidenschaft begegnen. Aber du wolltest ihn heiraten.
Viljam danach fragen.
War er der achte Patient? War es das, was du in
Tabu
enthüllen wolltest? Jo und Jakka
.
Angenommen, Jakka ist Berger und Viljam ist Jo … Viljam sucht Schutz und Fürsorge. Wird ausgenutzt. Der Teufel soll Berger holen. Er ist beim Teufel.
Sie stand auf, war plötzlich so erregt, dass sie nicht ruhig sitzen bleiben konnte.
Wer ist Ylva Richter? Hat Viljam ein Verhältnis mit ihr?
Sie nahm ihr Handy und wünschte sich, dieses eine Mal Netzempfang zu haben. Nicht um die Polizei anzurufen. Das konnte warten. Sie musste Viljam danach fragen. Musste eine Antwort darauf bekommen, um den Sinn dahinter zu verstehen … Mailin hatte Viljam geholfen, sie konnte ihn nicht ausgenutzt haben. Mailin war voller Güte. Liss leerte ihr Rotweinglas. Der Gedanke an diese Güte weckte ein ähnliches Gefühl in ihr. Liss fasste einen Entschluss: Sie musste noch heute Abend mit Viljam reden und herausfinden, ob das mit ihm und Mailin stimmte. Sie wollte nach Kringleåsen hinaufgehen und versuchen, ihn von dort aus anzurufen. Draußen im Dunkeln würde sie ihm erzählen, was sie entdeckt hatte. Dass sie wusste, wie schwer er es gehabt hatte.
Sie zog sich die Jacke über und nahm die Schneeschuhe vom Brett über der Tür. Sie hatte einen Menschen getötet. Doch sie spürte Mailins Güte in sich, die stärker war als all das Böse, das Liss getan hatte.
6
R oar stellte die Schüssel mit dem Rest der Tomatensuppe von gestern in die Mikrowelle. Im Kühlschrank fand er zwei hartgekochte Eier. Er pellte das eine und aß es. Für einen Augenblick dachte er daran, Viken sofort zu informieren, ließ es aber vorläufig bleiben. Wenn der Anruf, den er erwartete, die erhoffte Antwort brachte, würde er höchstpersönlich sein Ass auf den Tisch legen. Die peinliche Teambesprechung vor einer Woche hatte er vergessen. Diesmal würde er die richtigen Karten ausspielen, in der richtigen Reihenfolge.
Als die Mikrowelle ein »Pling« von sich gab, nahm er die Schüssel heraus, schnitt das zweite Ei in längliche Stücke und ließ sie in die Suppe fallen. Der Anblick der weißen Boote, die in der körnigen, roten Suppe dümpelten, erinnerte ihn aus unerfindlichen Gründen an etwas, das er seit Wochen mit sich herumschleppte. Er hatte seiner Mutter versprochen, sie auf den Friedhof zu begleiten und ihr bei der Pflege des Grabes zu helfen, auf dem immer noch die heruntergebrannten Lichter von Weihnachten standen. Sie war dazu zwar absolut selbst in der Lage, doch offenbar war es wichtig für sie, dass sie es gemeinsam taten.
Das Handy klingelte. Er schluckte ein Stück Ei hinunter, ehe er ranging.
»Hier ist Arne Vogt-Nielsen. Ich habe das überprüft, worum Sie mich gebeten haben.«
»Sehr gut«, meinte Roar, griff zu Stift und
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