Die Netzhaut
Kriminalkommissar nahm das leicht getarnte Lob an, ohne eine Miene zu verziehen.
»Können wir uns darauf verlassen, dass ihn sein Vater nicht doch anruft?«, wollte er wissen.
»Ich habe es ihm drei Mal gesagt«, entgegnete Roar und stellte den Motor ab. »Ich bin mir sicher, dass er es versteht. Außerdem hat er schon lange keinen Kontakt mehr zu Viljam gehabt.«
»Also kein besonders herzliches Verhältnis zwischen Vater und Sohn.«
»Sieht nicht so aus. In seiner Jugend hat Viljam anscheinend geleugnet, dass Vogt-Nielsen sein wirklicher Vater ist.«
Viken warf Roar einen Blick zu.
»Wann ist er von zu Hause ausgezogen?«
»Kurz vor Weihnachten 2003. Die Familie wohnt in Tønsberg. Viljam wollte in Oslo studieren.«
»Also unmittelbar nach der Ermordung von Ylva Richter.«
Der Schneeregen hatte wieder eingesetzt. Der Wind trieb die nassen Flocken gegen die Windschutzscheibe. Roar schaltete den Scheibenwischer ein. Viken fasste noch einmal das psychologische Profil des Mörders von Ylva Richter zusammen, das er erstellt hatte: ein Mann in ihrem Alter mit ähnlichem Umfeld, jemand, der nach der Tat einige Veränderungen in seinem Leben vorgenommen hatte.
»Ich habe den Vater sehr genau zu dem Zeitraum befragt, in dem Ylva Richter ermordet wurde«, sagte Roar. »Er konnte sich daran erinnern, dass Viljam in diesem Herbst seinen Führerschein gemacht hat. Der Vater hat ihm ein eigenes Auto besorgt, mit dem er viel unterwegs war.«
»Unter anderem in Bergen«, fuhr Viken fort und warf einen Blick auf die Uhr. »Wir nehmen fünf Mann mit. Er ist kein schießwütiger Desperado, aber wenn er mit dem Rücken zur Wand steht, wissen wir nicht, wie er reagiert.«
»Er könnte eine Waffe haben.«
»Ich vermute mal, dass er keine hat. Aber in diesem Punkt sollten wir nicht spekulieren.«
Roar ließ den Motor an, als er sah, wie zwei Streifenwagen aus der Einfahrt kamen. Als sie auf der Grønlandsleiret waren, sagte er:
»Das mit den Veränderungen in seinem Leben stimmt. Nicht nur, dass er nichts mehr mit seiner Familie zu tun haben wollte. Er hat auch den Namen gewechselt.«
Viken drehte sich zu ihm um.
»Der ist doch immer noch Vogt-Nielsen.«
Roar erzählte, dass Viljam es nach seinem Auszug abgelehnt hatte, weiterhin Jo genannt zu werden.
»Genau!«, rief Viken, als hätte er schon auf diese Information gewartet. »Also hat er auch seinen Namen nach dem Mord an Ylva geändert. Hast du noch mehr über die Familie herausbekommen?«
Roar wiederholte, was Anne Sofie Richter erzählt hatte.
»Der Vater hat mehrmals betont«, fügte er hinzu, »dass Viljam zwei jüngere Geschwister hat, die immer noch zu Hause wohnen und sich angeblich ganz hervorragend entwickeln. Die Mutter liegt anscheinend im Krankenhaus.«
»Ach wirklich? Besonders alt kann sie ja noch nicht sein.«
»Ich hatte keine Zeit, mich näher danach zu erkundigen.«
»Natürlich nicht. Du hast sehr gute Arbeit geleistet, Roar, glänzende Recherche, Eins plus mit Sternchen.«
Er grinste über seine eigene Ironie, doch Roar spürte, wie zufrieden er war. Er riss das Lenkrad herum, als ein Fahrradfahrer plötzlich in einem waghalsigen Manöver vom Bürgersteig direkt auf die Straße schlingerte.
»Pass doch auf, verdammt!«, rief er. »Wenn die Leute sich unbedingt das Leben nehmen wollen, dann brauchen sie mich da doch nicht mit reinzuziehen!«
»Bergers Rolle in der ganzen Angelegenheit ist höchst unklar«, erklärte Viken, der offenbar nicht mitbekommen hatte, dass sie fast einen Fahrradfahrer überfahren hätten.
Roar beschleunigte und überfuhr eine rote Ampel, um die beiden Streifenwagen nicht aus den Augen zu verlieren.
»Vielleicht hat er ja die Wahrheit gesagt«, schlug er vor. »Vielleicht wollte Mailin sich mit ihm treffen, um ein paar praktische Dinge wegen der Talkshow durchzusprechen.«
»Und die Verbindung zwischen Berger und Viljam Vogt-Nielsen?«
»Viljam will, dass Berger wie der Täter aussieht. Er sucht ihn auf, nimmt ein paar Haarbüschel mit und platziert den Ehering in seinem Auto.«
»Um das zu tun, müsste er ihn ziemlich gut gekannt haben.«
»Könnte auch sein, dass er ein Verhältnis mit Berger begonnen hat, nachdem er Mailin umgebracht hatte.«
Roar fand seine Argumentation überzeugend.
»Als Berger das Ganze durchschaute, wollte er nicht einfach zur Polizei gehen. Er wollte den Mörder vor laufender Kamera entlarven.«
Viken schien darüber nachzudenken.
»Wenn da was dran ist, dann brauchen wir die
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