Die Netzhaut
Hilfe von Viljam Vogt-Nielsen, um der Sache vollständig auf den Grund zu gehen.«
Die beiden Einsatzwagen blieben zu beiden Seiten des Hauses stehen. Roar fuhr in der engen Straße halb auf den Bürgersteig und parkte in einiger Entfernung. Sie konnten die Einsatzkräfte ausmachen, die sich um das Haus verteilten. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 23:16. Eine Minute später hörte Roar, dass Viken über Kopfhörer Bescheid bekam.
»Sie gehen rein«, sagte er leise.
Zwei uniformierte Gestalten gingen die Außentreppe hinauf und verschwanden im Inneren des Hauses.
»Die Tür war offen«, stellte Viken fest.
Also Zugriff, dachte Roar. Es war nicht undenkbar, dass Viken ihn verhören wollte. Viken galt als äußerst geschickt, wenn es darum ging, jemand ein Geständnis zu entlocken.
Die Uhr zeigte 23:32, als die Haustür weit aufgestoßen wurde.
»War ja klar«, sagte Viken und begab sich hinaus ins Schneetreiben.
»Haben sie ihn?«, fragte Roar, als er ihn erreichte.
Viken legte die Hand auf seinen Kopfhörer und lauschte.
»Keiner zu Hause. Ruf den Vater noch mal an. Frag ihn, ob er seinen Sohn nicht doch gewarnt hat.«
Als Roar den Flur betrat, kam Viken gerade die Treppe herunter. »Im ganzen Haus brennt Licht. Der Computer ist an, die Kaffeemaschine auch. Die Tür war offen. Was hat der Vater gesagt?«
»Der schwor, dass er Viljam nicht Bescheid gesagt hat.«
Viken ging weiter ins Wohnzimmer und überprüfte die Tür zum Garten.
»Von innen abgeschlossen. Wenn der Vater die Wahrheit sagt, dann ist Vogt-Nielsen nur kurz mal unterwegs, um irgendwas zu erledigen. Kaum vorstellbar, dass ihn jemand anders gewarnt hat.«
Er blieb stehen und betrachtete den winzigen Garten.
»Diesen Schuppen werden wir uns gleich heute Abend mal ansehen.«
»Da hat er bestimmt nichts versteckt«, wandte Roar ein. »Der Typ ist doch nicht auf den Kopf gefallen.«
Viken senkte unmerklich den Kopf.
»Ich will wissen, was für Werkzeuge wir dort nicht finden. Vielleicht kann uns der Hausbesitzer sagen, ob er etwas vermisst. Zum Beispiel einen Vorschlaghammer.«
7
A uch die Glut im Kamin war inzwischen erloschen. Nun ist der kleine Kobold für immer fort, dachte Liss. Vielleicht sagte sie es auch leise vor sich hin. Sie hob den leeren Krug hoch, in den sie den Rotwein gefüllt hatte. Auch der Wodka war leer, sogar die halbe Flasche Eierlikör. Sie brauchte mehr zu trinken, brauchte etwas, in das sie sich hineinflüchten konnte, denn sie war immer noch nicht müde … Draußen war es stockdunkel. Der Wind hatte aufgefrischt. Sie hörte, wie er durch den Schornstein heulte, und sie war sich sicher, dass es immer noch schneite. Ein weiteres Mal dieser Gedanke, dass es nicht aufhören würde, bis die ganze Hütte unter dem Schnee begraben lag. Sie würde erst gefunden werden, wenn man die Hütte wieder ausgrub. Oder im Frühjahr, wenn der Schnee schmolz. Dann würde sie immer noch in derselben Stellung vor dem Kamin sitzen. Das Herz eingefroren, der Blutkreislauf erstarrt, der Gedankenfluss plötzlich unterbrochen.
Sie nahm sich wieder ihr Notizbuch vor.
Viljam hat dich gebraucht, Mailin. Du wolltest es wiedergutmachen. Deshalb warst du mit ihm zusammen. Du hast eine Grenze überschritten. Das hättest du nicht tun sollen. Aber du hast es getan, um ihm zu helfen.
Viljam wirkte erleichtert, als sie ihn anrief.
Er ist froh, dass ich von ihm und Jakka weiß. Viljam hatte dich, Mailin. Johannes Viljam. Jetzt hat er niemand mehr. Kann ich jemand helfen? Ich habe einen Menschen getötet. Wie kann ich jemand etwas Gutes tun?
Plötzlich stand sie auf, nahm das Album mit den alten Fotos aus dem Regal, blätterte vor bis zum Porträt ihrer Großmutter. Elisabeth war ihr Name. Die Augen auf den Schwarzweißbildern waren intensiver als ihre. Wahrscheinlich war sie damals zwischen vierzig und fünfzig gewesen und hatte das untragbare Leben doppelt so lange ausgehalten wie Liss.
Elisabeth war in eine Sackgasse geraten. Versuchte, wieder herauszukommen. Vergebens. Elisabeth wurde zu Liss. Jemand muss die Dunkelheit weitertragen, Mailin. Du hast stets alles in helles Licht getaucht. Ich verbreite das Dunkel. Alles, was ich berühre, friert ein.
Sie musste pinkeln, zog sich mit wackeligen Beinen die Stiefel an und warf sich die Jacke über. Die Lampe nahm sie nicht mit. Sie kannte sich hier blind aus. Der Wind schlug ihr entgegen, als sie um die Ecke bog. Kleine Eisnadeln stachen sie in die Augen, schmolzen auf ihrem Gesicht und
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