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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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losschwimmen. Ylva wird nie erfahren, dass es etwas mit ihr zu tun hat. Aber vielleicht versteht sie es, wenn sie nach Hause kommt und sieht, was an ihrer Tür hängt.
    Er zieht Hose und Unterhose aus und behält das gelbe T-Shirt an. Den Zettel mit der Nachricht, den er in der Küche geschrieben hat, steckt er hinter die Lasche des einen Joggingschuhs.
    Er steht genau dort, wo die Wellen sich zurückziehen. Schäumend umspülen sie seine Zehen, während die kleinen Blasen zischend zerplatzen. Sie kommen nicht, um etwas zurückzulassen, denkt er. Sie kommen, um etwas zu holen. Er beginnt hinauszuwaten.
    »Hey, Joe.«
    Er bleibt stehen, dreht sich jedoch nicht um. Versucht sich einzureden, dass er fantasiert. Aber das stimmt nicht, Jakka steht hinter ihm im Sand.
    »Ist es nicht etwas spät, um zu baden?«
    Niemand kann ihn daran hindern, das fortzusetzen, was er begonnen hat. Es vielleicht verzögern, aber nicht verhindern. Er hat ein Versprechen gegeben. Aber wem? Wohl dem, der im Dunkeln seinen Hammer schwingt. Und es gibt niemand, der ihn dazu bringen kann, sein Versprechen zu brechen.
    Er dreht sich halb herum. Jakka trägt immer noch dieselben dunklen Kleider. Seine Haare sind fettig und ungekämmt. In einer Hand hält er eine Zigarette. In der anderen den Joggingschuh von Jo – und den Zettel.
    »Es wird eine lange Nacht, Joe«, sagt Jakka und wirkt nicht im mindesten besorgt. »Du hast noch viel Zeit.«
    Er zieht an seiner Zigarette und gibt sie ihm.
    »Komm, wir setzen uns und reden ein bisschen. Außerdem hast du mir noch gar nicht erzählt, wie es mit dir und Ylva Richter läuft.«
    Liebe Liss,
    wenn Du diesen Brief bekommst, gibt es mich nicht mehr. Ich sitze hier und sehe, wie der Staub sich im grauen Licht, das durchs Fenster fällt, langsam zu Boden senkt. Draußen wirbelt der Wind das Herbstlaub auf, das schließlich auf dem Schnee liegen bleibt. Selbst jetzt ist es ein seltsamer Gedanke. Nicht mehr zu existieren. Diesen Entschluss habe ich nicht in den letzten Minuten getroffen. Ich habe diesen Gedanken viele Jahre mit mir herumgetragen, und jetzt habe ich mich entschieden. Es hängt von Deinem Verhalten ab, ob ich Dir diese Zeilen schicke oder sie im Kamin verbrenne und noch eine Weile meinen Weg fortsetze. Ich werde keinen Kontakt zu Dir aufnehmen, keinen Finger rühren, um Dich zu beeinflussen. Es ist beinahe eine Erleichterung, dass die Entscheidung in Deinen Händen liegt, nicht in meinen. Und mit dieser Erleichterung verbunden ist ein anderer Gedanke: Wenn Du diesen Brief bekommst, wirst Du erfahren, was damals geschehen ist.
    Ich habe ihn zum ersten Mal im Flugzeug gesehen. Auf dem Weg zur Toilette ging er an mir vorbei. Ich blickte von meiner Lektüre auf – die einzige, die ich auf dieser Reise dabeihatte. Sein Blick streifte mich, aber ich glaube nicht, dass er mich wahrgenommen hat. Ich erinnere mich immer noch an die Strophe, die ich, dort am Fenster, ein ums andere Mal gelesen habe:
     
    »Wer ist der Dritte, der stets neben dir geht?
    Wenn ich zähle, sind es nur du und ich,
    doch wenn ich den Blick hebe, den weißen Weg entlang,
    ist stets noch jemand an deiner Seite,
    in braunem Mantel,
    den Kopf unter der Kapuze verborgen,
    ist es ein Mann oder eine Frau?
    Doch wer, wer ist auf deiner anderen Seite?«
     
    Ich könnte vieles über Jo und Jakka schreiben. Ich könnte im Detail über unser erstes Treffen in Makrygialos damals im Herbst berichten. Wie ich ihn davor bewahrte, sich zu ertränken. Wie er mich rettete. Nicht weil ich etwas zu gestehen hätte, Liss, sondern weil Du verstehen sollst, wofür Du mich verurteilst …

1
    Freitag, 28. November
    A bschminken. Streifen hellroter Gesichtshaut werden im scharfen Licht sichtbar. Der Fotograf hatte darauf bestanden, dass sie diese dicke, weiße Maske auftrug. Irgendetwas wollte er damit zeigen. Etwas Erstarrtes, das im Kontrast zum fast nackten Körper steht.
    Sie löste die Klammer und ließ das Haar über ihren Rücken fallen. Es wirkte dunkler als sonst, hatte aber immer noch einen rötlichen Schimmer. Sie blieb eine Zeitlang sitzen und betrachtete das, was sie im Spiegel sah. Die sich wölbende Stirn, die Augenbrauen, die sie ziemlich breit gelassen hatte, und die Augen, die zu weit auseinanderstanden. Das hatte schon immer merkwürdig ausgesehen, doch einigen Fotografen gefiel es so. Und Wim, mit dem sie an diesem Tag zusammengearbeitet hatte, behauptete mit einem Lächeln, dass sie wie eine Elfe aussehe. Langsam zog sie die

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