Die Netzhaut
das Fellbündel zwischen die Büsche. Hört Stimmen, die sich nähern, irgendwo zwischen Rutsche und Schaukel. Kein Wunder, dass bei dem Lärm jemand kommt. Doch sie gehen weiter und verschwinden die Treppe hinunter. Er schleicht zur Pforte und öffnet sie. Eine Schnur hängt daran, vermutlich von einem Kapuzenpullover. Er greift zwischen die Büsche, zieht den klebrigen Tierleib hervor und knüpft die Schnur um den Hals. Du weißt genau, was du damit machst, flüstert es in seinem Ohr. An welche verdammte Tür du ihn hängst.
Nachdem er den Auftrag ausgeführt hat, kommt er zur Ruhe. Geht zurück zum Spielplatz und setzt sich auf eine Schaukel. Er ist zu groß und schwer, das ganze Gerüst schwankt, und dieser Ruhe ist nicht zu trauen, denn es brennt immer noch in seinem Magen und will nicht aufhören. Als Daniel und er am Nachmittag den Strand verließen, wurde erneut die gelbe Flagge gehisst. Sicher weht sie dort immer noch. »So ist es jetzt«, murmelt er. Nicht mehr mittlere Gefahrenstufe.
Geräuschlos schließt er die Tür auf. Im Wohnzimmer brennt Licht. Wahrscheinlich ist Truls aufgewacht und hat es eingeschaltet. Jetzt liegt er neben Nini auf dem Sofa. Die Decke ist halb heruntergerutscht. Jo bleibt stehen und schaut auf die schlafenden Körper. Truls wird ihn vermissen.
Truls braucht dich, Jo.
Mutter wird ein schlechtes Gewissen haben und weinen. Sie wird sich selbst schrecklich bemitleiden. Nini ist zu klein, um etwas zu verstehen. Nur Truls wird ihn vermissen. Er hebt die Decke auf und breitet sie über die Geschwister.
Sein ganzer Unterarm ist voll von grünem Schleim und blutigen Kratzern. Er schleicht sich ins Bad und macht sich sauber. Aus dem Schlafzimmer dringen keine Geräusche. Mutter braucht Schlaf. Arne ist noch nicht nach Hause gekommen. Das könnte er tun: in die Bar gehen. Sicherlich ist Arne dort und schmeißt sich gerade an die dürre Frau des anderen Typen ran. Er könnte sich von irgendeinem Tisch ein Messer oder einen Flaschenöffner schnappen und ihm den Gegenstand in den Hals rammen, sodass Arne, dem Wichser, das Blut aus dem Mund schießt wie aus einem Gartenschlauch. Dann würde er seine Mutter wach rütteln, sie gemeinsam mit Truls und Nini in ein Taxi verfrachten und zum Flughafen fahren.
Hier sind wir fertig, Mama, verstehst du? Wir werden nie mehr hierher zurückkommen!
Währenddessen liegt Arne in der Bar auf dem Boden und verblutet. Im Flugzeug rührt sie keinen Tropfen an. Auch nicht, als sie nach Hause kommen. Sie macht die Pausenbrote für Truls und Nini fertig und fährt zur Arbeit, denn der Chef des Krankenhauses hat angerufen und gesagt, dass sie wiederkommen soll. Nie mehr wird sie tagsüber im Bett liegen. Stattdessen wird es nach gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot riechen, wenn Jo von der Schule nach Hause kommt, und sie wird an der Treppe stehen und ihn lächelnd in Empfang nehmen.
So wird es sein, Mama, wenn Arne, der Wichser, ein für alle Mal verschwunden ist.
Oben auf dem Kühlschrank findet er einen Briefumschlag und reißt die Rückseite ab. Dann nimmt er einen von Ninis Farbstiften, einen hellgrünen. Wie soll er anfangen?
Hasse euch?
Nein, nichts dergleichen. Als er fertig ist, stehen nur zwei Wörter da:
Vergesst mich.
Vom oberen Treppenabsatz sehen die Wellen wie große Katzenjungen aus, die Milch schlecken. Auf der untersten Stufe zieht er seine Joggingschuhe aus, geht barfuß durch den Sand. Es ist kühl geworden. Weiter unten kommt er an den zusammengeschobenen Liegestühlen vorbei. Aus dem Augenwinkel meint er dort jemand sitzen zu sehen, doch er schaut nicht näher hin. Er kommt zu der Stelle, wo das schäumende Wasser aufgeben muss und sich wieder zurückzieht, und folgt dem Schaumrand. Hier ist der Sand hart und gibt unter den Füßen kaum nach. Er geht bis zu einem bestimmten Punkt in der Mitte des Strands, den er sich unwissentlich schon vor mehreren Tagen ausgesucht hat. Einfach hinausschwimmen. Die Bojen hinter sich lassen in dem schwarzen, warmen Wasser. Richtung Afrika. Doch wird er dort nie ankommen, weil er ermüden wird. Vielleicht auch weil er Angst hat, aber vor allem, weil ihn seine Kräfte verlassen. Er wird schwimmen, bis er nicht mehr kann. Das dunkle, warme Wasser wird ihn umschließen … Plötzlich fühlt er sich leicht. Ist kaum noch wütend, nur noch froh. Sein Verschwinden wird für die Mutter ein Signal sein. Das Signal, Arne zu verlassen. Truls und Nini werden es besser haben. Er muss nur
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