Die Netzhaut
können, aber sie hatte keine Angst vor ihm. Auf seine Drohungen reagierte sie mit Verachtung. Das unterschied sie von den anderen Mädchen, mit denen er zu tun hatte. Sie brauchte ihn nicht. Er brauchte sie. Das hatte er zwar längst begriffen, hing aber immer noch der irrigen Meinung an, dass sie die Lage nicht richtig einschätzte. Er hatte ein paar Kontakte für sie hergestellt. Die meisten waren völlig unnütz, weil das Pornogeschäft für sie nicht infrage kam. Und nur wenige Fotografen, die er kannte, hatten andere Ambitionen. Sie wollte sie ausprobieren. Sich nicht binden und durch leere Versprechungen blenden lassen. Zako wollte, dass sie in der Designerklasse aufhörte, weil er meinte, es koste sie zu viel Zeit. Doch sie wollte nicht aufhören. Sie hatte genug Talent, um eines Tages Kapital daraus zu schlagen. Die Modelljobs hingegen machte sie nur, um Erfahrung zu sammeln. Wie wirkten ihre Fotos auf andere? Wie kam diese Wirkung zustande? Was konnte man aus diesen Fotos machen? Wie weit konnte sie sich von der Person lösen, die sie war oder früher einmal gewesen war?
Mit Zako war sie fertig. Sie hatte bereits begonnen, sich nach einer neuen Wohnung umzusehen, und würde auch keine Schwierigkeiten haben, ihre Schulden zu begleichen. Notfalls konnte sie ihre Familie anpumpen. Natürlich nicht ihre Mutter, aber Mailin, die ihr das Geld noch am selben Tag schicken würde, ohne Fragen zu stellen … Der Gedanke an ihre Schwester ließ sie innehalten. Sie quetschte die Bürste in ihrer Hand zusammen und starrte ihr Spiegelbild an. Etwas war passiert. Es war jetzt drei Tage her. Zako hatte mal wieder darauf bestanden, dass sie mit Geschäftsleuten ausging. Er hatte drei oder vier Mädchen, die für ihn auf diese Weise Geld verdienten. Er vermittelte die Treffen, sie verdienten gut, und er ließ sie einen ordentlichen Batzen behalten. Sie brauchten nicht mit den Geschäftsleuten zu schlafen, sondern begleiteten sie nur auf Empfänge und in Nachtklubs. Mit unbegrenztem Zugang zu Koks und den besten Restaurants der Stadt, lockte Zako sie. Rikke war kurz davor anzubeißen.
Leicht verdientes Geld,
versicherte er. Sein Tonfall erinnerte an einen Autoverkäufer, was Liss zum Lachen brachte. Er fragte, was daran so komisch sei. Und sie deutete an, dass sie nicht mehr für ihn arbeiten wolle. Seine Augen wurden schwarz.
»Kann ja sein, dass es dir egal ist, was aus dir wird«, knurrte er. »Aber es gibt bestimmt Menschen, die dir nicht egal sind.«
»Was meinst du damit?«, fragte sie und versuchte, ihre plötzlich aufkommende Unsicherheit zu überspielen.
»Du hast doch eine Schwester …«
Da geschah etwas, was lange nicht passiert war. Das Licht im Raum veränderte sich. Es wurde stärker und schien sich gleichzeitig zurückzuziehen. Bin ich nicht hier?, durchfuhr es sie. In diesem Moment hämmerte es in ihrer Brust, dass sie kaum noch atmen konnte. Und zugleich der andere Gedanke: Er darf nicht sehen, was mit mir geschieht. Sie hielt sich an der Tischkante fest. Er grinste. Sagte kein Wort, nur dieses Grinsen, als wolle er zeigen, dass er sie jetzt unter Kontrolle hatte.
Sie legte die Haarbürste hin, zog Hemd und Hose an. Zako hatte nicht kapiert, was für ein Idiot er war, ihre Schwester da mit hineinzuziehen. Das Maß war voll. Das würde sie ihm sehr deutlich zu verstehen geben.
Sie trug ein bisschen Mascara auf und holte den Eyeliner heraus. In diesem Moment sah sie Mailin vor sich. Sie steht vor dem Bett und trägt einen Pyjama. Trotz der Dunkelheit im Zimmer weiß Liss, dass er hellblau ist. Die Haare ihrer Schwester sind zu zwei Zöpfen geflochten. Als Kind hatte sie immer Zöpfe gehabt. Sie sagt irgendetwas.
Liss verstaute die Schminksachen in ihrer Handtasche, nahm die Lederjacke vom Haken und verließ die Garderobe. In der Küche hörte sie Wim mit einem der anderen Fotografen reden, mit denen er sich das Atelier teilte. Niemand bemerkte, als sie leise hinausschlich.
Es war fast Mitternacht. Das Café Alto war brechend voll. Das Quartett auf der Bühne des engen Lokals setzte zu einem Stück mit dem Titel »Before I met you« an, das der Pianist zuvor angekündigt hatte. Liss kannte ihn. Ein Amerikaner, der mit ein paar Mädchen aus ihrer Designerklasse zusammen gewesen war. Jetzt saß er gebeugt im Halbdunkel und schien fast verblüfft auf seine Hände zu starren, die über die Tasten liefen.
Rikke winkte vom Tisch neben der Treppe und rutschte auf der Bank zur Seite, um Platz zu machen.
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