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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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Dunkeln. Sie konnte ihn anrufen oder ihm eine SMS schicken, aber sie entschied sich, zu warten, und stellte sich auf der anderen Seite in den Hauseingang. Jetzt fror sie noch stärker. Sie brauchte diese Kälte. Der Gedanke an Mailins Verschwinden entglitt ihr immer wieder. Nur die Erinnerung daran blieb in ihr zurück. Die Stimme ihrer Mutter, die drauf und dran war, sich aufzulösen. Dabei sollte sie, Liss, diejenige sein, die verschwand. Ihr konnte alles Mögliche zustoßen. Sie bewegte sich auf einem Grund, der jederzeit nachgeben konnte. Sie lebte an Orten, wo Leute verschwanden, einfach abhauten oder zugrunde gingen. Wenn jemand die Mutter anrief, um ihr zu sagen, dass Liss verschwunden sei, wäre dies schlimm für sie, käme aber nicht unerwartet. Ein Teil der Trauer hatte bereits im Vorfeld stattgefunden. Doch wenn etwas mit Mailin geschähe, würde es sie in Stücke reißen.
     
    Mindestens eine Stunde war vergangen, als sie ein Motorrad hörte, das von der Brücke an der Prinsengracht heranbrauste. Wenige Sekunden später hielt es vor dem Eingangstor. Er war allein. Sie musste sich gewaltig zusammenreißen, um nicht sogleich über die Straße zu rennen und ihn an seiner Jacke zu packen. Sie wartete, bis er verschwunden war und das Licht in der Küche anging. Ein paar Minuten später rief sie ihn an.
    »Was willst du?«, fragte er schroff.
    »Bin in der Nähe. Auf dem Weg nach Hause. Dachte, ich schau kurz bei dir vorbei.«
    Zako grunzte und legte auf. Zweieinhalb Minuten später klingelte sie bei ihm. Er ließ sie herein. Die Tür im zweiten Stock war angelehnt. Der Eingangsbereich roch frisch geputzt. Er hatte ständig Mädchen, die bei ihm sauber machten, ohne dass er auch nur einen Cent bezahlte.
    Mitten im Wohnzimmer blieb sie stehen. Er saß auf dem Sofa, hatte eine Dose Amstel in der Hand und wandte seinen Blick nicht vom Bildschirm ab, auf dem ein paar Fußballer zu sehen waren, die sich gegenseitig anschnauzten. Unaufgefordert setzte sie sich hin. Er hatte offenbar keine Lust zu fragen, was sie von ihm wollte, und nahm es als selbstverständlich hin, dass sie irgendwann wieder auftauchte.
    »Ich bin hier, weil du mir eine Erklärung schuldig bist. Vor einer Woche hast du mir im Alto dieses Foto von meiner Schwester gezeigt.«
    Er ließ sich tiefer in die Kissen sinken und legte die Beine auf den Tisch. Schließlich sah er sie an. Seine schmalen Lippen zuckten, als würde er ein Lächeln zurückhalten.
    »Deine Schwester …«, wiederholte er unbeteiligt.
    Sie konnte in die Küche rasen, sich ein Brotmesser schnappen und es ihm an die Kehle halten, doch sie zwang sich zur Ruhe. Die Kälte in ihrem immer noch leeren Magen ließ sie ruhig werden. Lass ihn bloß nicht die Oberhand gewinnen. Wenn er die Oberhand gewinnt, hat er dich für immer in der Hand.
    »Hast du … hast du noch mehr Fotos von ihr?«
    »Natürlich«, antwortete er grinsend.
    »Wer hat die gemacht?«
    Er pfiff leise durch die Zähne.
    »Das willst du nicht wissen, Liss. Je weniger du weißt, umso besser.«
    »Du bluffst doch nur, Zako. Das hast du schon immer getan, anderen Leuten was vorgespielt.«
    Das lockte ihn aus der Reserve.
    »Man hört dir an, dass du schon länger nicht mehr richtig durchgefickt worden bist. Bist du deshalb hier?«
    »Kann schon sein.« Sie tat so, als dächte sie darüber nach. »Aber zuerst musst du mir von den Fotos erzählen.«
    Er setzte sich auf und fischte eine Schachtel aus seiner Jackentasche.
    »Erst mal eine Linie für jeden. Dann sehen wir weiter.«
    Sie zwang sich zu einem Lächeln. Eine Linie und ein Fick. So einfach konnte die Welt sein. Sie zog Jacke und Pullover aus. Ließ ihren Rock fallen, stand in schwarzer Strumpfhose und dünner Bluse vor ihm, wusste, dass ihm das gefiel.
    »Du bist störrisch wie eine Ziege«, brummte er.
    »Ich wusste nicht, dass du was gegen Ziegen hast.«
    Jetzt lachte er.
    »Wer hat das Foto gemacht?«, versuchte sie es erneut.
    »Ein Bekannter von mir.« Er streute das weiße Pulver auf den Tisch. »Jemand, der mir noch einen Gefallen schuldete.«
    »Wohnt er in Oslo?«
    Er zog mit seiner Visakarte drei Linien.
    »Nicht dass ich wüsste.«
    Eine Formulierung, die er benutzte, wenn er log.
    »Warum schickst du Leute nach Oslo, um Fotos von meiner Schwester zu machen?«
    Er blickte zu ihr auf.
    »Was soll das werden, ein Verhör?«
    »Ich glaube dir nicht, Mr. Bluff.«
    Er nahm einen Zettel aus der Kartenhülle und rollte ihn zusammen.
    »Glaub, was du

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