Die Netzhaut
Zeitung, die auf dem Tisch lag, riss einen Streifen ab und steckte ihn in die Jackentasche, holte ihn wieder hervor und kritzelte das Datum dazu, an dem die Nachricht verschickt worden war. Dann durchwühlte sie die Schreibtischschubladen. In der untersten lag das, wonach sie suchte, das Foto von Mailin. Sie steckte es ebenfalls in die Jackentasche. Weitere Ausdrucke fand sie nicht.
In rasender Eile zog sie sich wieder an. Zakos Kopf war zwischen Kissen und Sofalehne gesunken. Sie fasste ihn unter den Armen und richtete seinen Oberkörper auf, das erschien ihr sicherer. Die fast leere Flasche trug sie in die Küche, goss den Rest weg und spülte sie gründlich aus. Wenn er aufwachte, durfte er nicht herauskriegen, was passiert war. Auch ihre eigene Flasche spülte sie aus und trocknete sie ab. Warum eigentlich?, fragte sie sich, bemühte sich aber nicht um eine Antwort.
Zako saß immer noch wie ein zuammengesunkener Sack auf dem Sofa und schnarchte. Bevor sie ging, legte sie seinen Kopf in den Nacken, stopfte ihm sein gutes Stück in die Hose zurück und zog den Reißverschluss zu.
Zurück in der Wohnung am Haarlemmerdijk. Immer noch stoned, aber das würde bald vorübergehen. In ihrer Nachttischschublade lag noch ein Umschlag mit Koks. Wenn sie jetzt noch etwas nahm, würde das Gefühl der Unverwundbarkeit andauern. Sie war allein. Es war Nacht. Draußen auf der Straße war alles still. Mailin war verschwunden. Du musst runterkommen, Liss.
Sie setzte sich an den PC , googelte das norwegische Telefonbuch und suchte die Nummer, die sie auf dem Streifen Zeitungspapier notiert hatte. Judith van Ravens war der Name, den sie fand, wohnhaft am Ekebergveien in Oslo. Es war nach halb drei. Sie entschloss sich, bis zum Morgen zu warten, und zog mit zwei Bewegungen ihre Kleider aus. Sie ließ sie auf den Boden fallen und rollte sich im Bett zusammen.
Sie ist in der Hütte. Auch Mailin ist da. Sie gehen zum Wasser hinunter. Es ist Sommer, denn beide haben ein Badehandtuch dabei. Liss läuft auf den Felsen hinauf, von dem sie immer ins Wasser springen. Es geht steil nach unten. Als sie sich gerade ins Wasser stürzen will, entdeckt sie, dass es mit Eis bedeckt ist.
Sie wachte auf. Ihr war kalt. Graues Licht sickerte durch das Fenster, das zum Hinterhof hinausging. Liss streckte die Hand nach dem Handy aus. Sie hatte zwölf Stunden am Stück geschlafen. Ruckartig setzte sie sich auf. Sie war durstig, schwankte ins Bad und hielt den Mund unter den Wasserhahn. Trank lange. Dann setzte sie sich aufs Klo und pinkelte. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. »Mailin«, murmelte sie.
Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas Böses geschieht, Liss.
Danach rief sie Viljam an. War sich für einen Moment ganz sicher, dass alles so war wie immer, dass ihre Schwester zurückgekommen war.
Sie war nicht zurückgekommen.
»Sie ist seit fast zwei Tagen verschwunden.«
»Was tut man in so einem Fall?«, fragte Liss verzweifelt. »Was meint die Polizei?«
»Sie wurde bereits als vermisst gemeldet. Sie waren ein paarmal hier. Außerdem war ich auf dem Präsidium. Fragen über Fragen, ob wir uns gestritten haben und so weiter. Ob sie vielleicht Depressionen hatte und sich das Leben nehmen wollte.«
»Doch nicht Mailin.«
»Nein, niemand von uns kann sich so was vorstellen.«
»Aber irgendjemand muss doch irgendwas unternehmen!«
»Im Moment haben sie keine Spur, der sie nachgehen können. Tage und ich sind zur Hütte gefahren. Auch die Polizei hat dort gesucht. Ich weiß nicht mehr weiter.«
Liss blieb stehen und schaute auf den Haarlemmerdijk hinunter. Der Inhaber des Cafés auf der anderen Straßenseite hing ein Weihnachtsglöckchen über der Tür auf. »Irgendjemand muss irgendwas unternehmen«, wiederholte sie, während sie regungslos dastand. In diesem Moment erinnerte sie sich an die Handynummer.
Es meldete sich ein Anrufbeantworter. Eine Frauenstimme sprach erst niederländisch, dann englisch:
»Hier spricht Judith van Ravens. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht …«
Sie duschte, zog sich an und schminkte sich. Alles, was sie sonst auch tat. Sie lief die Treppe hinunter, verließ das Haus, ging quer über die Straße und betrat das Café. Der Besitzer lächelte ihr von der obersten Stufe einer Trittleiter aus zu. Er schien um die fünfzig zu sein, seine rosafarbene Glatze war von einem Kranz grauer Locken umgeben. Die Trittleiter stand auf einem Tisch, eine schwarzgekleidete Frau mit weißblonden Haaren
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