Die Netzhaut
Schwärze in mir hatte sich nicht verändert. Unter Menschen, die aßen und tranken und sich paarten. Sie stritten, kotzten und überließen das Kind sich selbst. Dann habe ich Jo kennengelernt. Abends saß ich auf der Terrasse vor dem Restaurant und las bei Kerzenschein ein ums andere Mal dasselbe Gedicht. Ich denke, es handelt von den letzten Tagen, zumindest hatte ich das Gefühl, es handelte von meinen letzten Tagen, in denen ich durch eine verdorrte Welt irrte, ohne Wasser und ohne Sinn, blind, leer und tot.
Was liest du da?
, wollte Jo wissen, als er zu mir kam. Er war mir gegenüber genauso misstrauisch wie wohl allen Menschen gegenüber, denen er begegnete. Mehr als alles andere brauchte er einen Menschen, dem er vertrauen konnte. Ich habe ihm von dem Gedicht erzählt, von dem Teil, der »Death by water« heißt, habe ihm das Bild des toten Phöniziers auf dem Meeresgrund ausgemalt
.
Jo war damals zwölf Jahre alt und vollkommen sich selbst überlassen. Er wusste, wie es mir ging.
1
Sonntag, 14. Dezember
A ls der Pilot den Sinkflug einleitete und durchsagte, man nähere sich dem Osloer Flughafen, erwachte Liss aus einem Wust von Gedanken. Zwei davon ließen sie nicht los:
Mailin ist verschwunden. Ich muss Mailin finden.
Sonntagnachmittag, nach vier Uhr. Sie hatte die Nacht in einem Stuhl auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol verbracht und erst am nächsten Morgen einen Flug bekommen. Seit sie im Café am Haarlemmerdijk gesessen hatte, waren fast vierundzwanzig Stunden vergangen. Wouters hieß der Polizeibeamte, der am Telefon gewesen war, als sie in Zakos Wohnung angerufen hatte. War es möglich, diesen Namen zu vergessen?
Es stimmt nicht, dass ich Zako vor einer Woche zum letzten Mal gesehen habe. Ich war dort in jener Nacht, unmittelbar vor seinem Tod
… Sie musste diesen Gedanken in einen Raum einschließen und die Tür verriegeln. An der Tür ist ein Schild, auf dem Wouters steht. Sie darf nicht geöffnet werden. Kann man vergessen, dass sich jemand in diesem Raum befindet? Mit Wouters musste sie anfangen, musste seine Stimme und alles vergessen, was er gesagt hat. Dann kann sie auch vergessen, wo sie in der Nacht zum Samstag gewesen ist.
Ich muss Mailin finden. Alles andere spielt keine Rolle.
Die Frau, die neben ihr saß, hatte die Lektüre von
VG
beendet. Sie gab Liss die Zeitung, obwohl diese nicht darum gebeten hatte.
Sie blätterte darin, ohne zu lesen. Dann blieb sie an einem großen Artikel hängen: »Vermisste Frau sollte Gast bei
Tabu
sein«. Es ging um Mailin. Ihr Freund hatte diese Fernsehsendung erwähnt.
VG
sprach in diesem Zusammenhang von einer »Skandal-Talkshow«, geleitet von einem gewissen Berger, einem Typen, dessen Namen Liss an Rockmusik aus längst vergangenen Zeiten erinnerte. Nun hatte er einen riesigen Erfolg mit seiner Talkshow, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, gesellschaftliche Tabus zu brechen. In der Sendung gestern war es offenbar um Sexualität gegangen. Berger hatte in den Raum gestellt, dass Sex mit Kindern unter gewissen Umständen völlig in Ordnung sei. Warum sollte Mailin, die sich stets sehr genau überlegte, worauf sie sich einließ, ausgerechnet an solch einer Talkshow teilnehmen?
»Die 29-jährige Psychologin kam niemals im Studio von Kanal 6 in Nydalen an. Seit dem frühen Abend hat niemand mehr etwas von ihr gehört. Während der Sendung mutmaßte Berger mehrmals, sie habe womöglich kalte Füße bekommen. Später verweigerte er in dieser Angelegenheit jeden weiteren Kommentar.«
Die Frau auf dem Nebensitz hielt die Augen geschlossen und die Armlehnen umklammert. Liss steckte die Zeitung in ihre Sitztasche und lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Die Wolkendecke unter ihr war dünner geworden. Darunter konnte sie den Fjord und an dessen Mündung die Festung Akershus ausmachen. Als sie vor fast vier Jahren von dort aus aufgebrochen war, hatte sie gedacht, sie würde niemals zurückkehren.
Was soll nur aus dir werden, Liss?
*
Sie hatte dem Taxifahrer den Ekebergveien, aber nicht die Hausnummer genannt. Als sie fast am Ziel waren, bat sie ihn anzuhalten, bezahlte mit ihrer Kreditkarte und stieg aus.
Hier oben, über der Stadt, war es bitterkalt. Liss war für einen milderen Tag in Amsterdam gekleidet und zum Flughafen aufgebrochen, ohne daran zu denken, andere Kleider mitzunehmen. Die Temperaturanzeige im Taxi hatte minus 12 Grad angezeigt. Sie knöpfte die dünne Lederjacke bis zum Hals zu und versuchte, ihre Hände in die winzigen Taschen
Weitere Kostenlose Bücher