Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
Vom Netzwerk:
hielt sie fest, während er silberne und goldene Kugeln an der Decke befestigte. Von der Bar drang Musik herüber: »It’s gonna be a cold, cold Christmas.«
    Sie bestellte einen doppelten Espresso und setzte sich ans Fenster. Da sie allein am Tisch saß, beschloss sie, Zako anzurufen und ihn noch ein einziges Mal zu treffen. Dann würde sie ihn unverblümt fragen, ob er wisse, dass Mailin verschwunden sei. Sie würde ihm ansehen, ob er log oder nicht.
    Sie wählte seine Nummer. Nach dem fünften Klingeln meldete sich eine tiefe Männerstimme.
    »Ist Zako zu sprechen?«
    »Wer sind Sie?«, fragte die Stimme.
    Sie zögerte, ehe sie sagte:
    »Eine Freundin.«
    »Eine Freundin? Was wollen Sie von ihm?«
    »Ich will ihn persönlich sprechen«, entgegnete sie ungehalten. »Ist er da?«
    »Zako ist tot.«
    Sie hätte fast das Handy fallen lassen.
    »Erzählen Sie mir keinen Blödsinn. Wer sind Sie?«
    »Kriminalkommissar Wouters. Beantworten Sie bitte meine Frage.«
    Sie konnte sich nicht mehr an seine Frage erinnern. Am Haarlemmerdijk gingen die Lichter an. Der sechszackige Stern mit dem roten Herzen darin. Ein Fahrradfahrer fuhr vorbei. Ein kleiner Junge saß vor ihm im Kindersitz.
    »Wann haben Sie Zako das letzte Mal gesehen?«, fragte die Stimme.
    In weiter Ferne hörte sie sich antworten:
    »Vor ein paar Tagen, vielleicht einer Woche.«
    Es wurden ihr weitere Fragen gestellt. In was für einer Beziehung sie zu ihm gestanden habe. Welche Drogen er konsumiert habe. Ob sie es gemeinsam getan hätten. Sie musste ihren vollständigen Namen und ihre Adresse angeben, erklären, womit sie in Amsterdam ihren Lebensunterhalt verdiente.
    »Richten Sie sich darauf ein, dass Sie Ihre Aussage möglicherweise auf dem Präsidium wiederholen müssen.«
    »Ja, natürlich«, murmelte sie. »Ich werde kommen.«
    Danach blieb sie sitzen und starrte ihr Handy an. Es stach und kribbelte um ihren Mund herum. Das Kribbeln breitete sich auf den Wangen aus.
    Der Café-Inhaber hatte alle Kugeln aufgehängt und sie mit Tannenzweigen geschmückt. Vorsichtig kletterte er die wackelige Leiter herunter und lächelte sie an.
    »So, jetzt kann’s Weihnachten werden.«
    Von der Bar drang die Stimme John Lennons herüber: »War is over, if you want it.« Sie spürte, dass ihr eines Nasenloch lief, und hielt ein Taschentuch daran. Als sie es fortnahm, war es voller Blut. Sie drückte es sich erneut gegen die Nase und eilte auf die Toilette.
    »Alles in Ordnung?«, fragte der Inhaber.
    Sie schloss sich ein, hielt das Taschentuch unter eiskaltes Wasser und presste die Nasenlöcher damit zusammen. Verdünntes Blut lief ihr übers Kinn und tropfte auf das weiße Porzellan.
    Wieder am Tisch, rief sie Rikke an. Rikke war am Apparat, brachte jedoch kein Wort heraus.
    »Das kann doch nicht wahr sein!«, sagte Liss. »Sag mir, dass das nicht wahr ist!«
    Rikke unterbrach die Verbindung.
    Ein paar Minuten später rief sie zurück.
    »Sie haben ihn heute Morgen gefunden … zwei Cousins von ihm … auf dem Sofa … erstickt an seiner eigenen Kotze.«
    Sie legte wieder auf. Liss klemmte einen Geldschein unter die Kaffeetasse und taumelte auf die Straße.
     
    Als sie ziellos durch die Straßen des Jordaan-Viertels irrte, tauchte erneut dieses Bild auf: Sie verschwindet im Wald, geht hinunter zum Sumpfgebiet zwischen den Kiefern, das nur sie, nicht mal Mailin kennt. Sie hatte diesen Ort immer als ihren letzten Bestimmungsort betrachtet, darum beruhigte sie diese Vorstellung stets. Doch jetzt konnte sie gar nichts mehr beruhigen.
    Am Haarlemmerplein hielt sie ein Taxi an und krümmte sich auf dem Rücksitz zusammen. Der kahlköpfige Fahrer trug einen grauen Anzug und roch nach dem Rasierwasser, das Zako hin und wieder benutzt hatte. Sie wollte die Tür öffnen und aussteigen.
    »Wo möchte die junge Dame denn hin?«
    Sie sank in den Sitz zurück. Glaubte, sie habe ihm schon gesagt, wo sie hinwolle.
    »Schiphol«, murmelte sie und zog sich die dünne Lederjacke enger um die Schultern.
    Der Fahrer drehte sich wieder um und zwinkerte ihr im Rückspiegel zu.
    »Travelling light«, bemerkte er und bot ihr eine Zigarette an.

Wenn ich dies schreibe, fällt mir alles ein, was ich Dir hätte sagen sollen, liebe Liss – wenn Du mich hättest erzählen lassen. Alles, was in jenem Frühjahr geschehen ist.
Der April ist der grausamste aller Monate.
Wie ich diesen Sommer durchgestanden habe und im Herbst, unter einer anderen Sonne, schließlich nach Kreta kam, doch die

Weitere Kostenlose Bücher