Die Netzhaut
Berger während einer Livesendung als Pädophilen enttarnen?«
Viljam begann die Papierserviette zu zerpflücken.
»Sie wollte ihn dazu bringen, die Sendung abzusagen, und ihm damit zeigen, dass es eine Grenze gibt. Ich habe sie gefragt, ob sie sich darüber im Klaren sei, mit welchen Reaktionen sie zu rechnen habe. Sie behauptete, das wisse sie ganz genau, doch ich fürchte, sie hat sich geirrt.«
Liss dachte erst nach, ehe sie sagte:
»Berger zufolge ist sie zu ihrem verabredeten Treffen nicht erschienen.«
Die Serviette riss in der Mitte durch. Viljam ließ die eine Hälfte auf den Boden fallen.
»Kann doch sein, dass es stimmt, was er sagt.«
Liss hatte das Gefühl, dass an den anderen Tischen die Gespräche verstummten. Er leidet, dachte sie. Du leidest, Liss.
Sie legte eine Hand auf seinen Arm.
»Wollen wir ein bisschen spazieren gehen?«
Sie überquerten den Rathausplatz und gingen am Kai entlang. In allen Fenstern leuchteten Weihnachtssterne.
»Ihr wolltet im Sommer heiraten«, sagte sie wie aus heiterem Himmel.
Viljam warf ihr einen erstaunten Blick zu.
»Woher weißt du das?«
»Mailin hatte mir eine SMS geschickt. Sie hat mich gebeten, mir nächstes Jahr an Mittsommer freizuhalten.«
»Dabei wollten wir das eigentlich noch geheim halten und erst an Weihnachten bekanntgeben.« Er starrte vor sich hin. »Sie bewundert dich«, sagte er plötzlich.
Liss zuckte zusammen.
»Wer?«
»Mailin sagt, dass du immer schon mutiger warst als sie. Nie vor irgendwas Angst hattest, immer als Erste die steilsten Abhängen hinaufgeklettert und von den höchsten Klippen gesprungen bist.«
Liss holte tief Luft.
»Du bist ja auch einfach nach Amsterdam gegangen«, fuhr er fort. »Mailin könnte das nicht. Sie ist viel zu sehr an ihre heimische Umgebung gebunden.«
Was soll nur aus dir werden, Liss?
»Was ist mit dir?«, fragte sie, um über etwas anderes zu reden. »Bist du mutig?«
»Nur wenn es sein muss.«
Sie standen an der Friedensfackel, am äußersten Punkt des Kais. Einige Boote dümpelten im kalten Fjord. Es hatte aufgefrischt. Kleine Schneeflocken trieben im Wind, sie blieben nicht liegen.
»Wann fährst du zur Hütte?«
»Heute Nachmittag.«
Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und entfernte einen Autoschlüssel.
»Glaubst du, dass du dort etwas über Mailin herausfindest?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du und Tage seid ja schon dort gewesen. Und die Polizei ebenfalls.«
Sie drehte sich zur Fackel um, die in dem blattförmigen Gefäß brannte, und streckte die Hand aus. Probierte aus, wie nah sie ihre Hand an die Flamme halten konnte, ohne sich zu verbrennen.
14
L iss parkte Mailins Auto bei Bysetermosan. Setzte ihren Weg zu Fuß fort und ging einen Waldweg entlang, hinein in die Stille. Eine Stille, die von den Geräuschen des Waldes durchbrochen wurde: dem Gezwitscher der Wintervögel, dem Wind in den Baumwipfeln. Sie vernahm ihre eigenen Schritte.
Dann erreichte sie die Stelle, an der sie vom Weg abbiegen musste. Der Schnee war geschmolzen und wieder gefroren, weshalb sie keine Schneeschuhe brauchte. Zunächst ging es steil bergauf. Es war fast vier Jahre her, seit sie das letzte Mal hier gewesen war, doch sie konnte sich an jeden Baum und jeden steinigen Hügel erinnern. Wo auch immer sie war, wurde sie von dieser Landschaft begleitet.
Als sie eine Hügelkuppe erreichte, sah sie das Dach der Hütte durch die Bäume schimmern. Sie blieb stehen und spähte in Richtung Morrvann und zu dem Bergrücken auf der anderen Seite des Sees. Erst bei Anbruch der Dämmerung nahm sie das letzte Stück in Angriff.
Es roch intensiv nach der braunen Beize. Ihr fiel ein, dass Mailin im Herbst erwähnt hatte, dass sie und Viljam die Hütte neu streichen wollten. Sie hatte sogar gefragt, ob Liss sie nicht besuchen und helfen wolle. Liss strich mit der Hand über das rauhe Holz der Außenwand. Die Berührung beschwor Mailins Bild herauf. Sie schien ihr jetzt nahe zu sein, und es dauerte einen Moment, bis sie sich dazu überwand, die Hütte zu betreten.
Sie zündete die Öllampe in der Küche an und nahm sie mit ins Wohnzimmer. Sah die verkohlten Holzscheite im Kamin. Mailin musste es eilig gehabt haben. Eigentlich verließ keiner von ihnen die Hütte, ohne vorher alles aufgeräumt zu haben. Auch die Asche im Kamin wurde entfernt, und neue Scheite wurden hineingelegt, damit der Nächste, der kam, nur ein Streichholz daran halten musste. Jetzt musste Liss den Kamin erst einmal sauber fegen
Weitere Kostenlose Bücher