Die Netzhaut
Wasser ziehen.«
Ihr Blick blieb an den Fotoalben hängen, die auf dem Regal standen. Sie hatten ihrem Vater gehört. Zu Hause in Lørenskog erinnerte nichts mehr an ihn, aber da die Hütte ihm gehört hatte, bevor er sie ihr und Mailin schenkte, waren die Alben hier gelandet. Sie nahm eines herunter. Hatte seit ihrem elften oder zwölften Lebensjahr nicht mehr darin geblättert. Sie hatte fast das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Die Vergangenheit ihres Vaters. In gewisser Weise hatte über diesem Teil der Familie stets ein Geheimnis gelegen. Etwas, worüber nicht geredet wurde. An ihren Großvater väterlicherseits konnte sich Liss schemenhaft erinnern, an seine mächtige Gestalt und den weißen Bart. Mailin hatte erzählt, dass er stets einen Anzug trug und die Laute verschiedenster Vögel nachahmen konnte: Kuckuck, Krähe und Kohlmeise natürlich, aber komischerweise auch Geier, Kondor und Flamingo. Schwer zu sagen, woher gerade er das konnte, der niemals verreiste und kaum fernsah.
Auf einem der Bilder schaute der Vater sie ernst an. Hoch aufgeschossen, blass und mit langen Haaren stand er vor seinem Elternhaus am Waldrand, das schon vor vielen Jahren abgerissen worden war. Jetzt befand sich dort ein Heim für schwererziehbare Jugendliche. Auf einem anderen Foto war der Vater irgendwo im Gebirge, trug einen Anorak, dessen Kapuze er sich über den Kopf gezogen hatte, und stapfte mit seinen Tourenskiern bergauf. Liss blätterte bis zu ihrem Lieblingsbild. Sie saß hoch oben auf seinen Schultern und hielt sich an seinen langen braunen Haaren fest, als wären es die Zügel eines Pferds. Sie spürte ein Ziehen im Bauch, als sie das Foto betrachtete. Und mit einem Mal kehrte die Erinnerung zurück. Er stolpert, sie schreit, sein Oberkörper kippt nach vorne, doch im letzten Moment richtet er sich wieder auf. Dann noch einmal. Sie juchzt und schreit, er soll aufhören und sie runterlassen, doch er weiß, dass sie genau das Gegenteil will.
Das braune Fotoalbum ist noch älter. Es stammt aus seiner Kindheit. Er hatte auf einem der Höfe in der Umgebung ausgeholfen, Mailin hatte ihn ihr gezeigt. Ihr Vater hatte abends geholfen, die Kühe zusammenzutreiben, oder das Heu zum Trocknen aufgehängt. Er war lang und schlaksig, genau wie sie. In der Türöffnung stand sie, seine Mutter.
Du gleichst ihr bis aufs Haar, Liss. Siehst du das?
Es war die Stimme ihres Vater. Sie erinnerte sich an ihren Klang. Vielleicht saßen sie hier in der Hütte auf dem Sofa. Jedenfalls blättern sie in dem Album, als er es sagt – wie ein Geheimnis, das sie nicht weitererzählen darf … Das Foto ihrer Großmutter war in Schwarzweiß, doch Liss wusste, dass sie sich ähnelten. Eine große, magere Frau mit Bluse und langem Rock. Sie wirkt blass und hat einen sonderbaren Gesichtsausdruck, als ob sie halb träumte. Ihr Haar ist auf altmodische Weise hochgesteckt. Auf einem der Fotos steht sie lächelnd draußen auf der Treppe, und die Ähnlichkeit zwischen ihr und Liss ist noch deutlicher zu erkennen. Alles, was sie von ihr wusste, hatte sie von Ragnhild. Die Mutter ihres Vaters hatte ein eigenes Atelier gehabt, in dem sie tagein, tagaus gemalt hatte, ohne dass dabei etwas Besonderes entstanden wäre. Sie hatte die Familie verlassen, als der Vater zehn Jahre alt war, doch Liss wusste nicht, wo sie hingegangen war. Vielleicht hatte ihr Vater es auch nie erfahren. Ragnhild zufolge litt sie an irgendeiner Krankheit und starb in der psychiatrischen Klinik in Gaustad.
Liss zog das Notizbuch heraus. Mailins Buch.
Warum habe ich im Gegensatz zu dir alles vergessen, Mailin?
Sie dachte eine Weile über diese Frage nach, ehe sie weiterschrieb.
All das, was ich dich fragen will, wenn du zurückkommst.
Viljam hat etwas im Blick, das an diese Fotos von Papa erinnert. Ist dir das aufgefallen? Etwas um die Stirn. Auch die Art zu sprechen. Aber der Mund ist anders.
Ich vermisse dich, Mailin.
Ich vermisse dich auch, Liss. Was soll nur aus dir werden?
Warum hast du den Kamin nicht sauber gemacht, bevor du das letzte Mal von hier weggefahren bist?
Darüber kann ich nicht sprechen.
Noch fünf Tage bis Weihnachten. Ich will, dass du nach Hause kommst.
Sie schrieb detailliert nieder, was Mailin an ihrem letzten Abend in der Hütte getan haben könnte: Essen gemacht, ein Glas Wein getrunken und ins Kaminfeuer gestarrt oder im Schein der Öllampe am Laptop gesessen und gearbeitet. Sie schrieb auf, was Mailin gedacht haben könnte, bevor sie einschlief. Wie
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