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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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sie am nächsten Tag ihre Sachen zusammenpackte. Vielleicht hatte sie es plötzlich eilig gehabt, jemand zu treffen, und keine Zeit mehr gefunden, den Kamin sauber zu machen. War durch den Wald zu ihrem Auto gehastet und losgefahren.
    Was danach geschehen war, konnte Liss sich nicht vorstellen.

15
    Dienstag, 23. Dezember
    D ie Gemeinschaftsküche war sparsam ausgestattet. Kühlschrank, ein Tisch mit fünf Stühlen, kleiner Herd, Mikrowelle. Ein Poster an der Wand, Salvador Dalís zerlaufende Uhren.
    Ein Typ in Kapuzenpullover kam herein, warf Liss einen kurzen Blick zu und nahm eine Packung aus dem Kühlschrank, offenbar Leberwurst. Er schmierte sich eine Scheibe Brot und eilte damit wieder hinaus.
    In diesem Moment kam Catrine von der Toilette zurück.
    »Versprich mir, dass du nie in ein Studentenwohnheim ziehst«, sagte sie. »Sobald ich mir was anderes leisten kann, ziehe ich sofort aus.« Sie blickte zur Arbeitsplatte hinüber, auf der sich Essensreste und Geschirr stapelten. »Wenn du wüsstest, wie sehr mich das annervt, dass hier nie jemand was wegräumt. Der Typ, der gerade da war, ist eines der größten Dreckschweine, mit dem ich je die Küche teilen musste. Und das will wirklich was heißen.«
    Schon in ihrer Wohngemeinschaft in der Schweigaardsgate hatte sich Catrine über die meist männlichen Mitbewohner aufgeregt, die nie aufräumten.
    »Wenn ich je mit einem Typen zusammenziehe, dann nur mit einem Krankenpfleger«, erklärte sie. »Die achten zumindest auf Sauberkeit.«
    »Also du und ein Krankenpfleger, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, entgegnete Liss.
    »Sag das nicht. Meinetwegen kann er ein Sensibelchen oder sogar schwul sein. Hauptsache, er räumt auf.«
    Es war über drei Jahre her, dass Liss sie zum letzten Mal gesehen hatte. Catrine hatte ihre Haare lang wachsen lassen und sie dunkel gefärbt. Auch ihr Kleidergeschmack hatte sich geändert. Von sackförmigen Pullovern zu eng sitzenden Tops, die so weit ausgeschnitten waren, dass man die Spitzen ihres Push-up- BH sah. Von weiten Unisex-Jeans zu Stretchhosen, die ihren wohlgeformten Hintern betonten. Als Liss nachfragte, räumte sie ein, seit einiger Zeit ein Fitnessstudio zu besuchen. Sie widmete sich zwar immer noch der Politik, doch war es mehrere Jahre her, dass sie an Hausbesetzungen und Straßenschlachten teilgenommen hatte. Inzwischen studierte sie Politologie und saß im Führungsgremium einer Studentenorganisation.
    »Wie geht’s bei dir zu Hause?«
    Liss sah das Haus in Lørenskog nicht als ihr Zuhause an, sagte aber nichts dazu.
    »Kannst dir bestimmt vorstellen, was da gerade los ist.«
    Catrine nickte.
    »Das kommt mir alles so unwirklich vor. Für euch muss es ja noch viel …«
    Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Eigentlich hatte Liss Catrine besucht, um einmal durchatmen zu können. Um nicht ständig über das reden zu müssen, was sie quälte. Offenbar hatte Catrine das jetzt verstanden. Sie stand auf, holte Kaffee, Apfelsaft und Cracker.
    »Du zählst immer noch Kalorien«, stellte Liss fest, als sie die Packung sah.
    »Stimmt.«
    »Und isst nach wie vor kein Fleisch?«
    »Doch, ab und zu. Aber nicht Wolf oder Bär.«
    Liss musste lächeln und fühlte sich für einen Moment leichter. Dann begannen die Gedanken wieder in ihrem Kopf zu kreisen.
    »Was verbindest du mit
Death by Water
«, fragte sie und schüttete je einen gehäuften Löffel Pulverkaffee in ihre Tassen. »Hab jede Menge Treffer bekommen, als ich es gegoogelt habe. Ich meine, es ist ein Filmtitel, oder aus einem Roman.«
    Catrine war belesener als sie und hatte immer etwas für eigenwillige Filme übriggehabt.
    »Kommt mir auch bekannt vor«, sagte sie. »Vielleicht der Name einer Rockgruppe?«
    Sie ging in ihr Zimmer und kam im nächsten Moment mit einem Laptop zurück. Sie schloss ihn an und loggte sich ins Internet ein. Kurz darauf rief sie:
    »Ach ja!
The Waste Land
von T. S. Eliot. Das hab ich sogar früher mal gelesen.«
    Liss sah ihr über die Schulter.
    »Phlebas the Phoenician, a fortnight dead, Forgot the cry of gulls, and the deep sea swell.«
    »Seit wann interessierst du dich denn für Gedichte?«, wunderte sich Catrine. »Du hast doch noch nie viel gelesen.«
    »Das ist mir einfach so untergekommen. Hört sich interessant an, ein ertrunkener Phönizier …«
    Sie las den Artikel zu Ende. Eine flüsternde Tiefseeströmung reinigt die Knochen des Ertrunkenen. Er liegt auf dem Meeresgrund, steigt empor und sinkt hinab,

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