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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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und neues Holz von draußen holen. Viljam und Tage hatten neulich hier vorbeigeschaut, und die Polizei. Aber keiner von ihnen hatte wohl ein Feuer gemacht. Es passte nicht zu Mailin, die strengen Regeln zu brechen, die sie sich selbst auferlegt hatten.
    Danach schaltete Liss das Radio ein, fand einen Sender mit Klaviermusik, die ihr aber rasch zu viel wurde. Sie stellte das Radio wieder ab, musste den Raum von allen Geräuschen befreien. Sie stellte sich ans Fenster und spähte im Zwielicht zum Morrvann hinunter. Vor vielen Jahren, auch an einem Wintertag, hatte sie schon einmal so mit Mailin dagestanden. Die Sonne versank hinter dem Bergrücken, die Bäume voll leuchtender Nadeln.
Diesen Ort werden wir niemals hergeben, Liss. Er gehört uns, dir und mir.
    Liss weinte. Begriff nicht, was geschah. Sie musste mit den Fingern ihre Wangen berühren. »Mailin«, murmelte sie. »Wenn das meine Schuld ist …«
    Es ist nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür, was geschehen ist.
    Ich muss mich stellen. Ich habe ihn getötet.
     
    Sie setzte sich die Stirnlampe auf, nahm die beiden Eimer und ging nach draußen. Stapfte unter den Tannen hindurch und folgte dem Verlauf des Bachs, bis sie zu dem großen Fels kam. Darunter ging es steil bergab, wie an einer Klippe. Im Sommer konnten sie sich von dort aus kopfüber ins Wasser stürzen. Doch sie mussten aufpassen, dass sie von dem Vorsprung aus weit genug nach vorne in die Tiefe sprangen. Denn direkt unter dem Fels befand sich ein Trampelpfad. Im Winter war die Eisschicht darauf wie hauchdünnes Glas. Die starke Strömung am Ablauf hingegen verhinderte, dass das Wasser im Winter gefror. In der Tiefe lagen alte Holzstämme und verströmten Gase, die ebenfalls die Eisbildung verhinderten. Am Seil ließ sie einen Zinkeimer hinab. Erst nach fast drei Metern platschte er ins Wasser. Sie zog ihn wieder nach oben, manövrierte ihn an der Felskante vorbei und wiederholte die Prozedur mit dem anderen Eimer.
    Etwas weiter links war eine kleine Bucht, ihr »Strand«, er war mit grobem Sand bedeckt und gerade groß genug, dass sie beide nebeneinander in der Sonne liegen konnten. Wenn sie allein waren, sonnten sie sich nackt. Ein Stück weiter oben, zwischen den Bäumen, lag ein altes Bootshaus, in dem sie ihr Ruderboot und ihr Kanu einlagerten. Sie ging Richtung Strand, setzte erst einen Fuß auf das Eis und stellte sich dann mit ihrem ganzen Gewicht darauf. Das Eis würde halten, wenn sie einfach geradeaus ging. Doch wenn sie den Weg nach rechts zu dem Fels und dem Ablauf des Sees einschlug, würde sie durch das Eis brechen und im eiskalten Wasser versinken.
Death by water,
dachte sie. Falls Mailin diesen Weg genommen hatte … aber das hatte sie nicht. Ihr Auto war in Oslo entdeckt worden. War jemand damit zurückgefahren?
     
    Sie machte Feuer im Holzofen und setzte Wasser für Kaffee und Suppe auf. Ging nach draußen auf die Treppe und zündete sich eine Zigarette an. Mailin wollte nicht, dass jemand drinnen rauchte. Das würde man noch Jahre später riechen, meinte sie, und Liss würde dieses Verbot niemals brechen.
    Nachdem sie eine Schüssel Minestrone gegessen hatte, inspizierte sie das Wohnzimmer, die Küche und die beiden Schlafzimmer. Sie warf einen Blick in die Schränke und leuchtete mit der Stirnlampe unter die Betten. Hob die obere Matratze des Etagenbetts hoch, wo Mailin meistens schlief. Doch abgesehen vom Kamin, sah alles so aus wie immer.
    Sie legte zwei Holzscheite in den Kamin, zog sich in die Sofaecke zurück und setzte sich im Schneidersitz hin. Ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Das riesige Geweih an der Wand, neben dem Barometer, musste von einem Monsterelch sein. Sie selbst hatte es einst gefunden. Unten am Børtervann, einem Seengebiet. Im Sommer trugen sie ihr Kanu von einem See zum anderen, bis sie die Biberdämme erreichten. Sie übernachteten unter freiem Himmel, erwachten im Morgengrauen und schlichen sich zum Balzplatz der Auerhühner. An all das erinnerte sie sich. Sie war zwölf und Mailin sechzehn. Doch von ihrer früheren Kindheit waren ihr nur ein paar unscharfe Bilder geblieben. Wenn Mailin von früher erzählte, war sie immer erstaunt darüber, an wie wenig sich Liss erinnerte. »Weißt du wirklich nicht mehr, wie du fast im Morrvann ertrunken wärst?« Nein, Liss erinnerte sich nicht.
Du bist in die erste Klasse gegangen und dachtest, du könntest schon schwimmen.
»Ich musste in meinen Kleidern hinter dir herspringen und dich aus dem

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