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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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Das war ihr längst zur Routine geworden. Doch an diesen Tatort zu kommen, auf der Galerie der Fabrik zu stehen und den nackten, jungen Frauenkörper im grellen Licht zu sehen … Am Tisch hatte sie sich den Anschein gegeben, als äße sie mit gutem Appetit, und danach hatte alles seinen üblichen Verlauf genommen. Die Jungs taten so, als seien ihnen die Geschenke ziemlich gleichgültig und alles andere wichtiger als Weihnachten, und verbargen ihre Erwartung hinter demonstrativem Gähnen und dem Verschicken von SMS . Ivar hingegen platzte förmlich vor Stolz, als er Schweinerippchen und Würste servierte, und seine Laune wurde noch besser, als er sich mit einem Glas Cognac hinsetzte und die Geschenke austeilte. Er begleitete dies mit den üblichen Spekulationen, was wohl in den hübschen Päckchen sein mochte. »Vielleicht ein Klapprad«, sagte er dann, oder: »Ich tippe auf ein Feuerwehrauto.« Als er den Pullover auspackte, den er bei H&M vor ein paar Tagen selbst anprobiert hatte, kannte sein Erstaunen keine Grenzen. Sie gönnte ihm die kindliche Weihnachtsfreude.
    Mit kaum hörbarem Seufzen riss sie sich von ihren Gedanken los, schaltete das Licht im Obduktionssaal ein und machte sich an die Arbeit.
     
    Nach einem raschen Snack ging sie hinüber ins Büro und tippte den vorläufigen Obduktionsbericht. Während sie ihn durchlas, beschlich sie ein seltsames Gefühl. Als fehle etwas zwischen ihren akkuraten Fachbegriffen. Sie wurde den Gedanken nicht los, dass ihr etwas entgangen war. Alter der Frau neunundzwanzig, wiederholte sie im Stillen. Blonde Haare, ebenmäßige Züge. Sie wusste von der Toten nur das, was in der Zeitung gestanden hatte. Sie war eine fertig ausgebildete Psychologin, die trotz ihres geringen Alters kurz vor der Habilitation stand. Jennifer bemühte sich, etwas zu finden, das nicht mit ihrem Aussehen oder ihrem Lebenslauf zu tun hatte. Würgemale, dachte sie, dann erschlagen, die Augen …
    In diesem Moment wusste sie, was es war. Sie griff nach ihrem Handy und öffnete die Liste mit den gespeicherten Telefonnummern.
    *
    Jennifer glaubte nicht wirklich an die Typenlehre des Hippokrates. Natürlich hatte sie auch nie ernsthaft an die Existenz der vier Körpersäfte geglaubt, die für Temperament und Charakter des Menschen verantwortlich sein sollten. Doch machte sie sich gern einen Spaß daraus, zu behaupten, diese vorchristliche Theorie sei ebenso wissenschaftlich wie die nebulöse freudianische Rhetorik, der viele Psychiater auch heute noch anhingen. Sie hatte sogar herausgefunden, dass sich die von Hippokrates begründete, vom griechischen Arzt Galen und später von Medizinern der Renaissance weiterentwickelte Kategorisierung verblüffend gut auf die Menschen ihres persönlichen Umfelds anwenden ließ. Allerdings war die damit verbundene Ironie allmählich in den Hintergrund getreten, und so hatte sie sich schließlich eingestehen müssen, dass sie diese Theorie inzwischen ganz ernsthaft vertrat. Das Innenleben der Menschen ließ sich auf eine Art und Weise ordnen, die das Unübersichtliche übersichtlich machte. Und im Lauf der Jahre hatte sie ihre Kategorisierung zunehmend verfeinert. Sie ging nicht mehr davon aus, dass Charakter und Temperament einer Person ausschließlich von den vier Dimensionen bestimmt wurde. Als in erster Linie sanguinischer Typ genoss sie das Leben und nahm es nicht allzu schwer. Andererseits kam manchmal aufgrund ihrer gleichzeitig vorhandenen cholerischen Veranlagung die Raserei so unvermittelt über sie, dass sie das Gefühl hatte, von einem heimtückischen Hund angefallen zu werden. Das galt auch für die Tage, an denen sie keine hormonellen Schwankungen als Erklärung ins Feld führen konnte. Dann tröstete sie der Gedanke, einen Überschuss an grüner Galle für ihr Verhalten verantwortlich machen zu können, wenn auch im metaphorischen Sinn.
    Dass auch Kriminalkommissar Hans Magnus Viken vom Dezernat für Gewaltverbrechen ein Choleriker war, hatte sie längst herausgefunden. Doch war sie nicht sicher, ob sich das Cholerische in seinem Fall mit einer gewissen Melancholie verband, was für einen Norweger nicht untypisch war, oder eher mit einem Phlegma, was man als ebenso typisch betrachten konnte. Als er um zwei herum anrief, wusste sie sofort, was er wollte.
    Viken gehörte zu den Ermittlern, die sich niemals mit Berichten zufriedengaben, sondern sich stets einen eigenen Eindruck verschaffen wollten. Im Grunde eine positive Eigenschaft, wenngleich sie nicht

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