Die Netzhaut
Flatland war ein erfahrener Kriminaltechniker, der niemals wegen Banalitäten anrief.
Als sie auf der schneeglatten Straße an Skedsmokorset vorbeifuhr, warf sie einen Blick auf die Uhr und fragte sich, ob sie wohl zum Weihnachtsessen um 18 Uhr wieder zu Hause sein würde. Doch es machte ihr nichts aus, die lästigen Vorbereitungen zu verpassen. Ivar war für die Schweinerippchen, die Würste und das Sauerkraut zuständig. Er war ein engagierter und guter Koch, und an das traditionelle norwegische Weihnachtsessen würde sie sich nie richtig gewöhnen können. Sie selbst hatte ein paar australische Traditionen in ihre Familie eingeführt. Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags hingen mit Geschenken gefüllte Strümpfe über den Betten der Jungs. Und am Nachmittag gab es Truthahn, Yorkshirepudding, Mince Pie und Brandy-Butter.
Dass ihre Familie eine Kerze am Grab ihres Schwiegervaters anzündete, würde sie ebenso verpassen wie den Besuch bei der Schwiegermutter, wo die Jungen nur wenige Stunden vor ihrem eigenen Festessen massenhaft Milchreis in sich hineinstopften, um die obligatorische Weihnachtsmandel zu finden. Außerdem wurde stets Punsch getrunken und Pfefferkuchen verzehrt bis zum Abwinken, während der Großvater seine üblichen Ermunterungen und Ermahnungen von sich gab. Ivars Geschwister mitsamt ihren Familien rückten natürlich ebenfalls an, und als Jennifer im Auto saß, verspürte sie Erleichterung darüber, alldem zu entgehen.
Im Dunst tauchte Karihaugen vor ihr auf. Sie stellte das Radio an und fand einen Sender, der sie angenehm berieselte. Vor acht Tagen war sie untreu gewesen. Es war so unerwartet geschehen, dass sie jedes Mal die Augen zusammenkneifen musste, wenn sie daran dachte. Weniger aus Scham als aus Verblüffung. Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass dieser Mann sie irgendwie anziehen könnte. Vielleicht tat er es auch gar nicht, weder vor noch nach dem Zwischenfall. Doch er hatte seit Jahren das erste Mal wieder die Leidenschaft in ihr entfacht. Seit Sean. Aber das war etwas ganz anderes. In Sean war sie verliebt gewesen. Mehr als das: Es war eine heillose und unheilvolle Besessenheit gewesen, seit er ihr im Labor das erste Mal seine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Als er nach Dublin zurückkehrte, hätte sie nicht gezögert, sich ihm anzuschließen, falls er es vorgeschlagen hätte. Natürlich hätte sie gezögert. Doch wäre es durchaus möglich gewesen, dass sie ihre Jungs, den Hof und dieses winterkalte Land zurückgelassen hätte … Sean war eine Narbe, deren Berührung ihr immer noch einen süßen Schmerz verursachte. Die Sache vor acht Tagen war glücklicherweise etwas ganz anderes gewesen. Eine hitzige und herrliche Besinnungslosigkeit mit einem Anfang und einem Ende. Schon möglich, dass so etwas noch einmal geschah. Vielleicht nicht gerade mit ihm, doch der Impuls würde sich erneut bemerkbar machen. Als Erinnerung an den Teil von ihr, der alles in Gang hielt.
Sie parkte in der Allee beim Polizeipräsidium und rief Flatland an. Ein paar Minuten später kam er in seinem silbergrauen Audi aus dem Eingangstor. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, der mit einer dicken Plastikplane abgedeckt war. Der Mann schien Flecken in seinem Auto mehr zu fürchten als alles andere.
»Gut, dass Sie Bereitschaftsdienst haben«, stellte er fest, und sie zweifelte nicht daran, dass er es ernst meinte. Er war Mitte fünfzig, kaum mehr als zehn Jahre älter als sie, aber grau und sehnig wie ein alter Dingo.
»Schießen Sie los!«, forderte sie ihn auf, als sie die Grønlandsleiret hinunterfuhren.
»Sieht so aus, als hätten wir die Frau gefunden, die seit über einer Woche vermisst wird.«
»Die Psychologin?«
»Ja, wir sind ziemlich sicher.«
»Und da ich dabei sein soll, kann die Frau uns offenbar nicht mehr selbst erzählen, was mit ihr geschehen ist.«
Er warf ihr einen stummen Blick zu.
»Wo fahren wir hin?«
»Nach Hurum. Zu einer stillgelegten Fabrik.«
Jennifer seufzte.
»Ist kaum eine Stunde von hier«, stellte Fastland fest.
»Wer hat sie gefunden?«
»Eine Polizeistreife vor Ort.«
»Was hat die denn an Heiligabend in einer stillgelegten Fabrik verloren?«
Der Kriminaltechniker warf einen Blick über die Schulter, ehe er auf die E18 einbog.
»Wir haben einen Tipp bekommen. Der Lebensgefährte und die Schwester der Vermissten sind mit ihrem Handy bei der Polizei aufgetaucht. Angeblich ist es ihnen mit der Post zugeschickt worden. Auf dem Handy war
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