Die Netzhaut
zwischen zwei Blutflecken neben dem Nabel lagen und ganz offenbar nicht von der Toten stammten. Nachdem sie weder Puls noch Atmung feststellen konnte, untersuchte sie mit einer Diagnostiklampe die Pupillen. Ging in die Hocke und ließ sich viel Zeit dabei, die Augen der Frau zu studieren. Sie waren voller Blut, als hätte jemand mit einem spitzen Gegenstand in sie hineingestochen. Das eine Auge war fast vollständig aufgerissen.
Nach der Untersuchung zog sie sich in einen Winkel der Halle zurück und sprach in ihr Diktiergerät. Flatland ging zu ihr und sagte kein Wort, bis sie fertig war.
»Und?« Er bot ihr eine Lakritzpastille an.
»Die Frau ist tot«, stellte Jennifer fest.
Auf Flatlands Gesicht zeigte sich die Andeutung eines Lächelns.
»Normalerweise halten Sie sich nicht so bedeckt.«
»Das ist richtig«. Sie lächelte zurück. »Und da heute Heiligabend ist, werde ich Sie reich beschenken.«
Unter seiner Lippe kam ein Stück Schnupftabak zum Vorschein. Sie hörte, wie seltsam ihr Dialog klang, und hoffte, dass er nicht zu geschmacklosen Witzen aufgelegt war. In einer anderen Situation hätte sie nichts dagegen gehabt, doch Flatland gehörte eigentlich nicht zu den Typen, die sich zu so etwas hinreißen ließen.
»Die Haut ist kaum marmoriert«, beeilte sie sich zu sagen, »und nur geringe Blasenbildung. Wie Sie wissen, sind das frühe Verwesungsmerkmale, doch bei so niedrigen Temperaturen treten sie natürlich erst später auf.«
»Sie meinen, die Leiche kann hier schon seit längerer Zeit liegen?«
»Hier oder an einem anderen Ort, wo es kalt ist. Der Tod kann bereits vor mehreren Tagen, vielleicht sogar vor einer Woche eingetreten sein. Im Mastdarm und im Gehirn herrschte eine Temperatur von zwei Grad, und die Totenflecken auf Bauch und Unterleib sind heller als üblich.«
»Todesursache?«
»Wollen Sie eine vorläufige Antwort? Die Flecken am Hals deuten darauf hin, dass der Lederriemen hart zugezogen wurde.«
»Erwürgt?«
»Es sind eindeutige Würgemale, aber das muss nicht heißen, dass dies die Todesursache ist. Sie könnte noch am Leben gewesen sein, als ihr Schädel zertrümmert wurde.«
Mit seiner Zungenspitze schob Flatland den Schnupftabak wieder an seinen Platz.
»Da hinten an der Wand befindet sich eine weitere Blutlache.«
Jennifer blickte in die dunkle Ecke, auf die er zeigte.
»Sie ist also von der Wand zu der Säule gezerrt und ihr Hals dort mit dem Riemen fixiert worden. Die Augen weisen übrigens deutliche Stichverletzungen auf, die von einem spitzen Gegenstand stammen. Sagten Sie nicht, dass die Augen auf dem Videofilm bereits verletzt aussahen?«
Flatland nickte kurz.
»Bevor sie erwürgt und ihr der Schädel eingeschlagen wurde«, stellte Jennifer fest, »hat sie vielleicht stundenlang in der Kälte gesessen und blind vor sich hin gestarrt.«
2
Donnerstag, 25. Dezember
D er Himmel über Oslo hatte sich in orangefarbene und gelblich graue Falten gelegt, doch über den Bergrücken im Norden war er fast pechschwarz. Jennifer Plåterud warf einen Blick auf die Armbanduhr, während sie die Tür des Rechtsmedizinischen Instituts aufschloss. Es war Viertel nach acht. Schon bevor die Leiche gefunden worden war, hatte es einen großen Medienrummel gegeben, der jetzt erst richtig losbrechen würde. Sie hasste es, im Zeitverzug zu sein und Resultate liefern zu müssen, ehe jemand danach fragte. Allerdings gab es noch einen anderen Grund für sie, am ersten Weihnachtsfeiertag in aller Herrgottsfrühe an ihrem Arbeitsplatz zu sein.
Sie hing ihren Mantel an die Garderobe, fand saubere Sachen zum Wechseln und zog Hose, Hemd, Kittel, Kopfbedeckung und Mundschutz über. Drei Minuten später öffnete sie die Tür zum Obduktionssaal. Normalerweise war dies das Signal für sie, einen Teil ihrer Sinneswahrnehmung auszuschalten und eine andere Welt zu betreten.
Doch an diesem Morgen verharrte sie zunächst im Dunkeln. Die Bilder aus der Fabrikhalle hatten sie durch die Heilige Nacht verfolgt und waren in ihren Halbschlaf eingedrungen, der sie hin und wieder übermannte. Das gestrige Weihnachtsessen hatte mit zweistündiger Verspätung begonnen, doch niemand schien sich daran zu stören oder stellte irgendwelche Fragen, was sie eigentlich getrieben hatte. Sie glaubte auch nicht, dass ihr jemand etwas anmerkte. Seit fünfundzwanzig Jahren, mehr als die Hälfte ihres Lebens, beschäftigte sie sich nun schon mit Medizin. Die letzten fünfzehn Jahre vorwiegend mit menschlichen Leichen.
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