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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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ein Videoclip zu sehen.«
    Er wechselte die Fahrbahn und drückte im Festungstunnel aufs Gaspedal. »Jemand hat die Vermisste gefilmt. Auf dem Film war auch ein Fabrikturm zu sehen. Ausgehend vom Poststempel des Päckchens, konnten wir den Ort innerhalb von einer Stunde identifizieren.«
    »Jemand hat sie gefilmt und ihrem Lebensgefährten den Film geschickt?«, brach es aus Jennifer heraus. »Reden wir denn von vorsätzlicher Tötung?«
    »Dazu kann ich nichts sagen.«
    Jennifer hatte schon mehrere Male mit Flatland zusammengearbeitet. Er gehörte zu den Leuten, die nicht mehr Worte machten als unbedingt nötig. Sie sah sich im Auto um. Nicht nur der Beifahrersitz, sondern auch alle anderen Sitze waren mit derselben dicken Plastikplane abgedeckt. Die reinste Zwangshandlung, dachte sie. In seinem Job war das sicher von Vorteil.
     
    Über dem Dach der Fabrik prangte immer noch ein Schild mit der Aufschrift »Icosand«. Am Eingangstor hing ein anderes Schild: »Bei rotem Signal stehen bleiben!« Es musste Jahre her sein, seit die geborstene Lampe überhaupt irgendein Signal von sich gegeben hatte. Eine großgewachsene Frau in Uniform stand jetzt dort und winkte sie herein.
    Unterhalb des Fabrikturms standen zwei Streifenwagen und ein Privatfahrzeug. Die Polizistin kam zu ihnen herüber. Sie wusste offenbar, mit wem sie es zu tun hatte, und stellte sich mit Namen, Titel und Dienstort vor.
    »Wir haben die gesamte Umgebung abgesperrt«, erklärte sie. »Und wir benutzen den Hintereingang.« Sie zeigte zum größten Gebäude hinüber, einem vierstöckigen Betonklotz. »Es ist am unwahrscheinlichsten, dass der oder die Täter diesen Eingang benutzt haben.«
    Jeder trug seinen Koffer, als sie zum hinteren Ende des Gebäudes gingen, wo sich eine rostige Tür befand, die angelehnt war und sich hinter ihnen nicht schließen ließ. Drinnen war es dunkel. Flatland holte eine Taschenlampe mit langem Griff aus seinem Koffer. Sie entdeckten eine Treppe, gingen auf Anweisung der Polizistin in den zweiten Stock und betraten einen Gang. Mehrere Fensterscheiben waren eingeschlagen, entlang der einen Wand lagen haufenweise Glasscherben.
    Dann betraten sie die Galerie einer großen Halle, die von zwei hellen Scheinwerfern erleuchtet wurde. Mitten im grellen Licht, an eine Betonsäule gelehnt, lag ein nackter Körper. Auch zwei weiße Gestalten waren dort zu erkennen, die eine beugte sich nach unten und richtete ihren Fotoapparat auf den Fußboden.
    Flatland holte zwei Overalls, Hauben und Schuhüberzüge aus seinem Koffer. Da Jennifer immer noch ihre hochhackigen Stiefeletten aus Antilopenleder trug, ließen sich die Überzüge nur schwer befestigen. Also nahm sie zwei unbenutzte Haargummis zu Hilfe, die sie in ihrer Manteltasche fand. Sie kletterten eine rostige Leiter hinunter, Flatland zuerst, um zu prüfen, ob sie auch stabil genug war.
    »Bitte hier entlang«, sagte der Techniker mit dem Fotoapparat und zeigte, welchen Weg sie nehmen sollten.
    Jennifer blieb ein paar Meter von dem nackten Körper entfernt stehen. Der Hals war mit einem Riemen an einem Haken an der Betonsäule fixiert. Vom Haaransatz war ein Streifen Blut über die eine Wange des bleichen Gesichts gelaufen. Ansonsten sah es unverletzt aus. Die Augen waren halb geöffnet.
    »Wann wurde sie gefunden?«
    »Der örtlichen Polizeibehörde zufolge betraten die Beamten das Gebäude circa um halb zwei, also vor knapp zwei Stunden.«
    Sein Atem hing wie Rauch in der Luft, als er antwortete. Die Temperatur in der Halle war nicht höher als draußen.
    »Ist ein anderer Arzt hier gewesen?«, fragte Jennifer.
    »Das war offenbar nicht nötig. Als sie sie gefunden haben, gingen sie sofort von einem Todesfall aus.«
    Jennifer runzelte die Stirn. Der Körper, der dort lag, war offenbar stark unterkühlt. In diesem Zustand musste man sehr vorsichtig mit einer Todesdiagnose sein. Erst als sie näher heranging, sah sie die Lache geronnenen Bluts, in der die Frau lag. Mittendrin war eine hellere Substanz zu erkennen. Jennifer beugte sich vor und beleuchtete den Hinterkopf. Unter den verklebten Haaren befand sich ein halbmondförmiges Loch in der Schädeldecke. Eine graue Masse war dort ausgetreten und ein Stück über den Nacken gelaufen.
    »Stimmt«, entgegnete sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Hier besteht kein Zweifel.«
    Dennoch zog sie das Stethoskop aus ihrem Koffer. Während sie Herz und Lunge abhorchte, gab sie darauf acht, die hellen Haarsträhnen nicht zu berühren, die

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