Die Netzhaut
knuffte sie in die Seite.
»Du hast doch gesagt, dass du heute keinen Bereitschaftsdienst hast«, brummte er, doch nach zwanzigjähriger Partnerschaft hatte er sich daran gewöhnt, dass Jennifer niemals vollständig freihatte.
Sie entschuldigte sich bei der Gastgeberin, ihrer Schwägerin, und zog sich ins Wohnzimmer zurück. Dort loderte ein Kaminfeuer, mitten im Zimmer stand der Weihnachtsbaum, und draußen hatte der Schnee dem Tauwetter widerstanden und lag wie ein klatschnasser Teppich auf dem Rasen. Bei Ivars Schwester roch immer alles so frisch geputzt. Man muss die Dinge »in Ordnung halten«, wie sie stets sagte.
Jennifer hatte gehofft, dass Roar Horvath ihr keine weiteren SMS schicken würde, doch als sie den Absender las, musste sie sich eingestehen, dass sie auf das Gegenteil gehofft hatte. Sie lauschte dem Gespräch im Esszimmer. Offenbar ging es darum, wie wichtig ihr Job war und dass sie stets in Bereitschaft sein musste. Gleich würden sie über die tote Frau sprechen, die man auf einem verlassenen Fabrikgelände in Hurum gefunden hatte. Inzwischen wussten alle, dass Jennifer in diese Sache involviert war.
Lust auf eine Tasse Kaffee?,
las sie auf dem Display.
Sich auf einer Weihnachtsfeier zu vergessen war das eine. In diesem Punkt war die Statistik auf ihrer Seite. Die meisten Menschen waren zu so etwas imstande. Man stieß vor dem kalten Büfett zufällig zusammen wie zwei Kugeln auf dem Billardtisch. Dann tanzte man miteinander, ein rascher Abschiedskuss im Auto, nur dass sich der Abschiedkuss in ihrem Fall ein wenig in die Länge gezogen hatte und in einem Bett geendet war, das sich Gott sei Dank als ziemlich stabil erwies. Nach solch einem Vorfall war es möglich, fast so miteinander umzugehen, als wäre nichts geschehen. Wenn man sich jedoch außerhalb des Jobs wiedertraf, überschritt man eine Grenze. Denn solch eine Begegnung wäre ja kein Zufall, sondern das Ergebnis einer gezielten Verabredung, bei der plötzlich andere Spielregeln galten. Spielregeln, die mit Anpassungen und Überschreitungen zu tun hatten. Man musste genau dosieren, wie sehr man sich auf diese Sache einließ, musste Begründungen und Ausreden finden, warum man von zu Hause fortging, musste seine Schuldgefühle bearbeiten, um nur einige Folgen zu nennen. Vor allem aber würde der Alltag erschüttert werden. Der Untergrund, auf dem man sich bewegte, würde einem weniger tragfähig erscheinen. Nach Seans Abreise hatte sie ein halbes Jahr gebraucht, um wieder zu sich selbst zu finden. Allerdings war Roar Horvath niemand, in den sie sich verliebte, und konnte deshalb als halbwegs sicheres Terrain für einen Seitensprung betrachtet werden. Außerdem war er fast zehn Jahre jünger als sie, seit nicht einmal einem Jahr geschieden und hatte eine Tochter, um die er sich an jedem zweiten Wochenende kümmerte.
Sie hatte tatsächlich Lust auf eine Tasse Kaffee. Sie hatte Lust, ihn zu treffen.
Als sie ihn damals nach Hause gefahren hatte, nach der Weihnachtsfeier, hatte er sie plötzlich hochgehoben und über die Schwelle seiner Wohnung direkt ins Schlafzimmer getragen, während er einfach weiterredete, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Er brachte sie durch seine Einfälle zum Lachen, während er sie Schicht für Schicht entkleidete, ehe er sich seiner eigenen Kleider mit nur zwei Bewegungen entledigte, splitternackt vor ihr stand und es genoss, von ihr betrachtet zu werden.
Auch dieses Mal küsste er sie im Flur, noch bevor sie ihren Mantel ausgezogen hatte. Sie war darauf genauso unvorbereitet wie damals, bemerkte, dass er den Kaffee, zu dem sie eingeladen war, bereits getrunken und zudem etwas Salziges gegessen hatte, vielleicht Räucherlachs. Außerdem hatte er Bier getrunken. Er küsste sie so heftig, dass der Gedanke an Räucherlachs, das ureigenste aller norwegischen Gerichte, sich ebenso schnell verflüchtigte, wie er aufgetaucht war. Er ließ seine Hand unter ihren Rock gleiten und zog ihr den Slip aus. Dann hob er sie hoch, öffnete seinen Gürtel, befreite sich ohne große Schwierigkeiten von seiner Hose und drang mit einem Stoß in sie ein. Obwohl sie versuchte, einen Schrei zu unterdrücken, stieß sie ihn aus, ohne es zu merken. Als sie kam und erschöpft an seinem Hals hing, ließ er sie nicht los, sondern schlang sich ihr eines Bein um die Hüfte und trug sie wie beim letzten Mal ins Schlafzimmer. An diese Eigenart hatte sie sich bereits gewöhnt.
Als er schließlich den versprochenen Kaffee
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