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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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gefunden. Er spurtet den Wergelandsveien hinunter. Läuft sich warm. Unten in der Stadt schlägt eine Uhr. Er zählt drei Schläge. Leere Straßen. Seit ein paar Wochen läuft er wieder. Jede Nacht. Er schießt um die Ecke, die Pilestredet entlang zum Ibsentunnel. Der Tunnel setzt ihm eine Frist. Er muss wieder heraus sein, bevor von hinten ein Auto kommt. Er wird auch den Festungstunnel ausprobieren, der ist länger. Und den Ekebergtunnel. Früher lief er auf der Aschenbahn vor vielen Zuschauern. Seinem Endspurt war niemand gewachsen. Er hielt sich anfangs immer zurück und wartete ab. Wenn sie in der letzten Kurve auf die Zielgerade einbogen, drehte er auf und ließ sie hinter sich. Sie begriffen gar nicht, wo er auf einmal herkam. Von einem anderen Planeten, rief er ihnen zu. Nicht vom Mars oder von der Venus, sondern von einem Planeten einer anderen Galaxie. Er war immer schon gelaufen. Wenn er lief, war er ruhiger, als wenn er stand oder saß. Für ein Comeback war es nie zu spät. Come back man. Er war schon früher zurückgekommen. Sie glaubten nicht mehr an ihn. Behaupteten, er habe genug Chancen bekommen. Zuerst das, was sie Fürsorge nannten. Der Sport hat ein großes Herz für diejenigen, die aus der Bahn geworfen werden. Lassen die Jungen nicht im Regen stehen, wenn sie ins Trockene wollen. Dann wurde er noch ein paarmal erwischt. Koks und Amphetamine. Er sagte, er sei fertig damit, meinte es aber nicht ernst. Unterschrieb einen neuen Vertrag. Sollte noch eine Chance bekommen, wenn er bereit war, sich behandeln zu lassen. Kein Wunder, dass sie auf ihn setzten. Niemand hatte so einen Endspurt wie er. Nicht mal Rodal in seinen besten Zeiten. Ich hätte ihn geschlagen, dachte er grinsend, während er lief. »Ich hätte Rodal in Atlanta geschlagen!«, rief er. Wäre es zwölf oder sechzehn Jahre später gewesen. Rodal war zu lahm. Ein träger Typ aus Tröndelag. Bei ihm jedoch war die Fähigkeit zum Sprinten angeboren. Sie lag ihm im Blut, in seinen Zellkernen.
    Als er sich dem Ausgang des Tunnels näherte, kam von hinten ein Taxi heran. Er gab alles, der Taxifahrer hupte. Er zeigte ihm den Mittelfinger, setzte zum Endspurt an, ließ das Taxi locker hinter sich und sprang schließlich auf den schmalen Bürgersteig. Er lief quer über die Verkehrsinsel und bog in die Schweigaardsgate ab. Eine lange, glatte Fläche, doch er hielt perfekt das Gleichgewicht, konnte es im Bruchteil einer Sekunde justieren. Sein Atem war warm und schmeckte nach Eisen. Seine Schulden waren zu hoch. Dreißig Riesen, meinte Karam. So viel konnte es doch nicht sein. Aber es hatte keinen Sinn, mit Karam zu streiten. Er habe zu wenig verkauft, meinte der Typ, und würde zu wenig Kohle reinbringen, was schlecht fürs Geschäft war. Dreißigtausend vor Mittwoch, meinte Karam, sonst wirst du nie mehr laufen, nicht einmal kriechen können. Karam kennt ihn so gut, dass er weiß, was das Schlimmste für ihn wäre. Das Schlimmste wäre nicht, im Fjord zu treiben und sich von den Makrelen auffressen zu lassen, bis nur noch Knochen übrig sind. Das Schlimmste wäre, für den Rest des Lebens an den Rollstuhl gefesselt zu sein, nie mehr laufen, nicht mal kriechen zu können. Karam hatte es ihm ausgemalt. Er würde nicht von den Makrelen, sondern von dem aufgefressen werden, was in ihm tobte.
    Mailin Bjerke war die Erste gewesen, die keine Forderungen gestellt hatte. Darum ertrug er es nicht, zu ihr zu gehen. Nur ein paarmal war er da gewesen, dann hatte er damit aufgehört. Weil sie diesen Blick hatte, einfach dasaß und ihm zuhörte, ohne irgendwelche Forderungen zu stellen. Das ließ ihn verzweifeln. Er hatte nichts zu sagen. Er hätte aufstehen und ihren Laptop gegen die Wand werfen können. Oder sie hochheben und auf den Tisch setzen, um zu sehen, wie ihre Augen schwarz wurden. Ihr endlich Angst machen, sie mit etwas konfrontieren, was sie nicht verstand. Wie wollte sie das, was in ihm vorging, kontrollieren? Doch sie gab nicht auf. Wollte, dass er wiederkam. Come back man. Manchmal hatte er ihr geglaubt. Hatte geglaubt, sie könne ihm wirklich helfen. Dass reden helfen würde. Sie drängte ihn wiederzukommen und bestand darauf, neue Termine zu machen. Wenn er nicht könne, solle er einfach eine SMS schreiben. Dann würden sie einen weiteren Termin verabreden. Sie habe fast immer Zeit und könne auch kurzfristig etwas ausmachen. Er vereinbarte einen Termin, kam aber nicht und sagte auch nicht ab. Doch sie gab nicht auf. Sie war naiv. Glaubte,

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