Die Netzhaut
sie hier eine Verabredung und schaute noch mal in ihrer Praxis vorbei, nachdem sie in der Hütte gewesen war. Ihr Auto hat man doch ebenfalls vor der Tür gefunden.«
Er begriff, dass diese Frau lieber Fragen stellte als Antworten gab.
»Haben Sie das Auto gesehen, als Sie die Praxis verließen?«
Sie schüttelte entschieden den Kopf.
»Ich habe die andere Richtung eingeschlagen, hinunter zum Holbergs plass.«
»Um welche Uhrzeit?«
»Um circa halb vier. Die Straßenbahn geht um zehn nach halb. Das habe ich schon alles Ihren Kollegen erzählt.«
»Sie müssen entschuldigen, dass wir manchmal mehr als einmal fragen«, entgegnete er in neutralem Ton und blickte zur Kaffeemaschine hinüber, die ein brodelndes Geräusch von sich gab. »Sie sind Mailin Bjerke an diesem Tag also gar nicht begegnet?«
»Zum letzten Mal habe ich Mailin einen Tag vor ihrem Verschwinden gesehen. Sie hat um drei Uhr bei uns vorbeigeschaut, um eine Nachricht zu hinterlassen. Danach wollte sie zur Hütte fahren.«
Das stimmte mit der Aussage von Viljam Vogt-Nielsen überein. Roar setzte sich hin. Im selben Moment löste sich der Stuhlrücken aus seiner Verankerung. Es schien so, als würde der ganze Stuhl bei der nächsten Bewegung zusammenbrechen.
»Was war das für eine Nachricht?«
Auch Torunn Gabrielsen nahm Platz und blickte in ihre Kaffeetasse.
»Es ging um einen Patienten. Dazu kann ich Ihnen leider nur eine begrenzte Auskunft erteilen.«
Roar wusste, was das hieß. Die Aufklärung unzähliger Fälle wurde verzögert oder verhindert aufgrund dieser verdammten Schweigepflicht, die oft nicht mehr als eine bequeme Ausrede war und mit dem Schutz der Persönlichkeit nur wenig zu tun hatte. Daher überraschte es ihn, als Torunn Gabrielsen fortfuhr:
»Es war ein Patient, der kam und ging, wie es ihm passte. Manchmal tauchte er überraschend hier auf, andere Male hielt er seine Termine nicht ein. Mailin bat mich, sie zu informieren, wenn er hier gewesen war.«
»Haben Sie das denn mitbekommen? Sie arbeiten doch eine Etage tiefer.«
»Zumindest wenn ich eine Pause mache oder Papierarbeiten erledige, lasse ich die Tür offen stehen.«
Sie stand auf, holte den Kaffee und zwei Becher. Roar bekam einen, auf dem stand: »Heute ist dein Tag«. Der Henkel war abgebrochen und der Rand abgestoßen.
»Können Sie sich vorstellen, dass irgendjemand Mailin Bjerke schaden wollte?«
Torunn Gabrielsen nahm einen Schluck und behielt ihn lange im Mund, ehe sie ihn hinunterschluckte. Seltsame Art, Kaffee zu trinken, dachte Roar und rechnete nicht mit einer Antwort auf seine Frage. Doch erneut wurde er überrascht.
»Reden wir von jemand, der sich das vorstellen könnte, oder von jemand, der dazu imstande wäre?«
»Beides«, antwortete er hoffungsvoll.
Ein weiterer Schluck Kaffee und erneutes Grübeln, während sie ihren Mund mit Kaffee ausspülte.
»Mailin war bei allen beliebt. Doch sie nahm kein Blatt vor den Mund.«
»Das heißt?«
»Dass sie ziemlich … direkt sein konnte. Es kam vor, dass sie andere verletzte. Es gibt eben Leute, die es nicht vertragen, wenn ihnen Dinge auf den Kopf zugesagt werden.«
Roar wartete auf weitere Erklärungen und unterbrach sie nicht.
»Doch in erster Linie reden wir natürlich über ihre Patienten. Sie wissen ja sicher, dass Mailin mit Menschen zusammenarbeitete, die Opfer sexueller Übergriffe waren. Manche wurden später selbst zu sexuellen Gewalttätern.«
»Denken Sie an eine bestimmte Person?«, tastete Roar sich weiter vor.
»Ja, schon.«
Sie schenkte sich mehr Kaffee ein.
»Vor ein paar Jahren hatte Mailin einen Patienten, der … Ich weiß nicht genau, was damals passiert ist. Ich glaube, er hat sie bedroht.«
»Also ein männlicher Patient.«
»Ja. Mailin hat nicht viel von ihm erzählt. Aber sie musste die Behandlung abbrechen. Eigentlich gab sie niemals auf und war unglaublich stur, wenn sich jemand als scheinbar hoffnungsloser Fall entpuppte.«
»Und Sie wissen, dass dieser eine Patient sie bedroht hat?«
»Also eigentlich wissen tue ich es nicht, aber ich hatte den Eindruck. Es muss sehr ernst gewesen sein, denn Mailin war völlig außer sich.«
»Wann war das?«
Torunn Gabrielsen schien nachzudenken.
»Das war im Herbst vor zwei Jahren. Unmittelbar nachdem Pål hier sein eigenes Behandlungszimmer bekam.«
»Sind Sie diesem Patienten einmal begegnet?«
Da sie nicht antwortete, nahm er ihr Schweigen als Aufforderung fortzufahren. »Nun, wenn es nicht Ihr eigener Patient war,
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