Die Netzhaut
telefoniert, der die Ähnlichkeiten der beiden Fälle ebenfalls bemerkenswert findet. Aber er kann uns ja nicht einfach ihr Material schicken.«
»Natürlich nicht.«
Dann kam sie unvermittelt auf den eigentlichen Grund ihres Besuchs zu sprechen: »Aber ich könnte natürlich dem Gades-Institut einen Besuch abstatten und unsere Fotos mitnehmen und dort einen Vergleich der Sektionsergebnisse durchführen, um Viken und seinen Leuten die Arbeit ein bisschen zu erleichtern.«
Obwohl Korn nicht überrascht wirkte, dachte er für einen Moment nach, ehe er etwas erwiderte.
»Ich habe Ihr Engagement stets zu schätzen gewusst, Jennifer. Auch die Tatsache, dass Sie sich nicht scheuen, anderen auf die Zehen zu treten, wenn Sie es für notwendig halten.«
Sie spürte, dass sie errötete. Doch Korn gegenüber war das nicht schlimm.
»Ich kann mich selbst noch gut an den Fall in Bergen erinnern«, sagte er und blickte, sicher aus Rücksichtnahme, aus dem Fenster. »Und die Augen der Frauen weisen dieselben Verletzungen auf?«
Als Rechtsmediziner hatte er fünfzehn Jahre mehr Berufserfahrung als sie, doch schien sein Umgang mit dem Tod seine Fürsorge für die Lebenden zu fördern.
Er beugte sich über den Tisch. »Ich halte es für keine gute Idee, nach Bergen zu fahren. Aber ich werde mit dem Chef des dortigen Dezernats für Gewaltverbrechen telefonieren. Wir sollten schließlich die richtigen Prioritäten setzen.«
Jennifer sah bereits vor sich, wie Viken vom Dezernatsleiter Sigge Helgarson zum Rapport zitiert wurde. Sie hatte gehört, dass Helgarson von Viken stets mit Geringschätzung behandelt wurde, und konnte sich eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen.
»Wie hieß noch mal dieses Mädchen in Bergen?«, fragte Korn und hatte bereits die Hand am Telefonhörer.
»Richter«, antwortete sie. »Ylva Richter.«
8
Dienstag, 30. Dezember
R oar Horvath drückte auf eine der Klingeln neben der Tür, auf der »T. Gabrielsen« stand. Keine Reaktion. Er begann sich zu ärgern, denn er war auf die Minute pünktlich. Aber die Branche, der sie angehörte, war nicht gerade bekannt dafür, mit der Zeit anderer Leute achtsam umzugehen.
Endlich summte das Türschloss. Das Treppenhaus war heruntergekommen und stank nach Schimmel. Das ganze Haus sah aus wie ein Renovierungsobjekt. Als er den Treppenabsatz des ersten Stocks erreichte, steckte eine Frau mit rundem Gesicht ihren Kopf zur Tür heraus.
»Warten Sie bitte kurz dort drüben«, sagte sie und zeigte auf eine Tür. »In einer halben Minute bin ich fertig.«
Roar betrat eine Küche, die wohl auch als Aufenthaltsraum diente. Auf einem Tisch neben der Tür stand eine Kochplatte, daneben eine Kaffeemaschine. Ein winziger Kühlschrank stand unter dem Fenster, das auf den Hinterhof hinausging und an dem ein Flipchart lehnte. Der Hängeschrank enthielt eine Schachtel mit Kaffeefiltern, ein paar Tassen und Gläser, eine Kilopackung Salz und eine merkwürdige kleine Plastikkanne mit langer Tülle. In der Ecke zwischen Kühlschrank und Wand stand ein graulackierter Aktenschrank. Er hatte drei Schubladen, die alle verschlossen waren. Auf dem Flipchartblock hatte jemand mit blauem Stift mehrere Pfeile aufgezeichnet, daneben standen Wörter wie »Dilemma«, »Selbst-Entwicklung« oder »Verteidigung«. Er blätterte zurück und stieß auf weitere Zeichnungen und Erklärungen in verschiedenen Handschriften.
Nach über zehn Minuten erschien endlich Torunn Gabrielsen. Schweigend setzte sie Kaffeewasser auf, äußerte kein Wort der Entschuldigung und überließ es ihrem Gast, ob er stehen oder sitzen wollte.
Roar tippte, dass sie etwa in seinem Alter war, obwohl sie älter wirkte. Sie hatte halblange Haare. Ihr Gesicht war bleich und grobporig, ihre Augen gerötet. Sie trug zwar keine Brille, aber er konnte ihren Abdruck auf dem Nasenrücken erkennen. Außerdem blinzelte sie, als sie zu ihm aufblickte. Betrachtete er sie als Frau, würde er diplomatisch feststellen, dass sie nicht unbedingt seinem Geschmack entsprach. Nicht gerade viel Charisma, dachte er. Vielleicht war sie auch nur erschöpft. Reiß dich zusammen, Roar!, ermahnte er sich, als er merkte, wie seine Abneigung überhandnahm.
»Ich freue mich, dass wir dieses Gespräch hier führen können«, sagte er. »Dann kann ich mir auch gleich das Behandlungszimmer von Mailin Bjerke ansehen.«
»Wurde sie denn hier zuletzt gesehen?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete er.
»Aber wenn ich richtig verstanden habe, hatte
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