Die neue arabische Welt
vor allem von der ägyptischen Regierung entsandte Studienmissionen trieben um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die geistige Auseinandersetzung mit europäischen Ideen, auch mit europäischer Macht- und Kolonialpolitik an. Dabei erkannte man die Notwendigkeit, die eigene Sprache zu einem Instrument modernen Denkens zu schärfen. Es galt, die kulturelle Identität zu wahren, andererseits aber auch den Anschluss an die Entwicklung der übrigen Welt zu finden.
In mehr als 20 Staaten mit gut 350 Millionen Menschen ist Hocharabisch heute Amtssprache. Vom klassischen Arabisch unterscheidet es sich grammatikalisch kaum, umso mehr aber im Stil. Aus dem Französischen oder Englischen wurden viele Lehnwörter übernommen, wie etwa futbol, filim, dimuqrati oder akademi.
Die weitaus meisten Araber sprechen jedoch nicht Hocharabisch als Muttersprache, sondern Dialekte, die Regionalsprachen entsprechen. Sie unterscheiden sich zwar sehr,
sind aber den jeweils anderen nicht völlig unverständlich. Dabei bilden die Maghreb-Dialekte eine eigene Gruppe, während etwa der syrische, der libanesische und der palästinensische Dialekt der Hochsprache sehr nahestehen. Der ägyptische Dialekt ist vielen vertraut, weil er durch die lange von Ägypten stark monopolisierte Produktion von Kinofilmen und Fernsehdramen weite Verbreitung fand.
In der gesamten arabischen Welt klaffen allerdings hochsprachliche Norm und sprachliche Realität auseinander. Das klassische Arabisch gilt noch immer als unantastbar, es gibt keine offizielle neuarabische Grammatik. Gleichwohl weicht das in der Literatur und in den Medien gebrauchte Arabisch vielfach von den klassischen Regeln ab – was als gängige Praxis toleriert wird. Die klassische arabische Kultur als das alle Araber einende Band gilt als Ideal, doch die Realität ist ganz anders. Europäische Kritiker haben diesen Zustand als Zeichen der Stagnation, als Ausdruck einer »versiegelten Zeit« (so der Historiker Dan Diner) beschrieben. Die arabische Sprache erscheine als unantastbar, weil sie den Anspruch auf Sakralität erhebe.
Auch arabische Schriftsteller sehen ein höchst problematisches Erbe darin, dass die Alltagssprache, die mit frommen Formeln durchsetzt ist, und mehr noch die Hochsprache unterschwellig religiöse Normen vermitteln. Moderne Autoren wie der Libanese Raschid al-Daif wollen die arabische Sprache deshalb entmythisieren. So greift Daif etwa die stark von männlichen Idealen beherrschten Formulierungen in literarischen Texten an, vor allem aber das Tabu, über Sexualität zu reden. Er tut es demonstrativ, wie schon seine Buchtitel verraten: »Ich nenne die Dinge beim Namen« oder »Die Verschwulung der Welt«.
Licht aus dem Osten
Arabiens Wissensschätze haben Europas
geistige Welt im Hochmittelalter entscheidend verändert:
mit Lehrbüchern für Ärzte, mit Naturwissenschaft,
vor allem aber durch kühne, aufklärerische Philosophie.
Von Johannes Saltzwedel
Was war so erstaunlich an dem Seehändler, der da um 1075 im italienischen Hafen Salerno einlief? Machte sein Sprachtalent Eindruck, oder waren es die erlesenen Kräuter seiner Fracht? Hatte er wundersam hilfreiche Rezepturen dabei? Irgendwie jedenfalls verblüffte er die Gelehrten des Ortes mit ärztlichem Fachwissen – so sehr, dass sie den weitgereisten Mann zu bleiben baten.
Sie sollten es nicht bereuen. Der arabische Pflanzenexperte ließ sich auf den Namen Constantinus Africanus taufen, wurde gar benediktinischer Laienbruder und begann, arabische Medizinliteratur ins Lateinische zu übersetzen. Zwei umfangreiche Handbücher und ein kürzeres Übersichtswerk brachte er hervor; außerdem entstanden Einzelstudien: zur Fieberlehre und zum Puls, über Depressionen, Augenkrankheiten und Bauchleiden.
Für Salerno, die junge Hochburg der Heilkunde, kam die Informationsspritze aus der muslimischen Welt wie ein Wunder. Endlich konnten Ärzte nachlesen, wozu Galen, der legendäre Meisterdoktor aus der römischen Kaiserzeit, wirklich riet und wie arabische Experten sein Lehrgebäude ausgebaut hatten. Constantinus, der bald eine Klause im nahen Kloster Monte Cassino beziehen durfte, wurde als
»Weiser von Orient und Okzident« und »neu erglänzender Hippokrates« gefeiert. Als er 1087 starb, setzten jüngere Fachleute sein Werk zwar in Kommentaren fort, aber geistiger Nachschub aus Arabien fehlte fürs Erste.
Neue Kontakte entstanden seit etwa 1130: mitten auf der iberischen Halbinsel, in Toledo. Hier, nahe
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