Die neue arabische Welt
der umkämpften Grenzzone von muslimischer und europäischer Kultur, bot sich die Chance, das überlegene Wissen der Araber gründlich zu erkunden, keineswegs nur in der Medizin. Ein ganzes Team von Spezialisten um die Italiener Gerhard von Cremona und Dominicus Gundissalinus stürzte sich nun auf arabische Handschriften, die sie so wörtlich wie möglich ins Lateinische brachten. Weit über ein Jahrhundert lang lösten sich die fleißigen Übersetzer ab. Was sie zutage förderten, machte unauslöschlichen, ja epochalen Eindruck.
Da hatte Plato von Tivoli, ein Experte für Mathematik und Himmelskunde, anfangs mit großem Recht gewettert, auf Latein gebe es kein einziges gescheites Kompendium für Astronomie, »nur Narrheiten, Träume und Altweibergeschichten«. Jetzt standen die lang vermissten Grundlagenbücher bereit: das Œuvre des Erd- und Himmelskundlers Ptolemaios, die Standardwerke der Mathematik-Gründerväter Euklid und Archimedes, auch große Portionen aus dem reichen Werkkatalog Galens. All diese antiken Schätze waren in arabischer Fassung erhalten.
Nicht minder imponierte, was die Araber selbst geleistet hatten: Gabir Bin Aflah und al-Chwarismi in der Mathematik, Alhazen in der Optik, Abu al-Kasim in der Medizin, das waren nur die wichtigeren Namen. Ganz obenan stand der persische Arzt und Universalgelehrte, den man lateinisch Avicenna nannte: Abu Ali al-Hussein Ibn Sina, 1037 nach bewegtem Leben in Hamadan gestorben, ein wahrer Fürst der Wissenschaften.
Blutgefäßsystem des Menschen nach Mansur Bin Iljas, um 1400 (Buchillustration aus Isfahan, 1488)
Natürlich hatte Avicenna für seine enzyklopädischen Bücher nicht bei null angefangen; vielfach berief er sich auf Aristoteles, den Patriarchen empirischer Forschung im alten Athen. Goldgräberstimmung muss unter den Übersetzern von Toledo aufgekommen sein, als sie in den arabischen Großbibliotheken auch Übersetzungen eines Großteils der erhaltenen Werke des Aristoteles selbst fanden.
Bei orientalischen Gelehrten hieß der Weise, der als Lehrer Alexanders des Großen legendär geworden war, oft einfach »der Philosoph«. Mit Recht: Was immer Aristoteles über Politik und Tierkunde, Seelenlehre, Himmelsbau und viele weitere Wissenszweige zusammengetragen hatte, alles sollte sich zu einem Gefüge ordnen, das auf klaren philosophischen Grundlagen fußte. Das Anfänger-Lehrbuch hierüber, die sogenannten »Kategorien«, war den Intellektuellen Europas lange vertraut. Nun aber kam nicht nur Aristoteles‘ Lehrbuch über logische Schlüsse dazu, sondern vor allem seine Metaphysik, eine bis zur Vertracktheit dichte Abhandlung über die Grundbegriffe des Denkens. Zu allem Überfluss hatte eine ganze Schar arabischer Autoren kluge Bemerkungen und Einsprüche beigesteuert.
»So etwas wie die Aufklärung im Mittelalter« nennt der Mainzer Philosophie-Historiker Kurt Flasch die Folgen des enormen Wissenszustroms für das Abendland. Das ist eher noch untertrieben. Denn Europas Theologen, die sich bislang meist an den Lehren des Kirchenvaters Augustinus orientiert hatten, konnten nicht leugnen, dass Aristoteles und seine arabischen Kommentatoren vielfach überzeugender argumentierten – und in ganz anderer Richtung.
Naturkundlern machte das nichts aus; bei profaner Weltkenntnis ging es ja vor allem um Genauigkeit. Den Staufer-Kaiser und Wissenschaftsfreund Friedrich II. zum Beispiel, der im sizilischen Palermo selbst an einem Kreuzungspunkt
gelehrter Traditionen regierte, reizten vor allem biologisch-physikalische Fachkenntnisse. Um 1230 engagierte er Michael Scotus, einen der Besten aus dem Team von Toledo, der am Hof prompt eine Übersetzerwerkstatt gründete. Friedrich selbst konnte sogar die vorher unzugängliche »Mechanik« des Aristoteles studieren und für sein grundgelehrtes Buch über Falken und die Falknerei in Avicennas Tierkunde nachschlagen.
Aristoteles habe »allen Suchenden den Weg der Wahrheit geöffnet«, jubelte 1159 der belesene John von Salisbury. Ihm wie praktisch allen anderen Meisterdenkern, etwa später Albertus Magnus, galt Aristoteles als Lichtgestalt echten, umfassenden Wissens – und mit ihm ein Araber, der bienenfleißig und gleich in drei unterschiedlich dicken Versionen die aristotelischen Schriften erläutert hatte: Abu al-Walid Mohammed Ibn Ruschd, lateinisch: Averroes. Unter Insidern hieß der verblüffend rationalistisch argumentierende Mann aus Córdoba schlichtweg »der Kommentator«.
Averroes hielt Aristoteles
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