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Die neue arabische Welt

Die neue arabische Welt

Titel: Die neue arabische Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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für »eher göttlich als menschlich«, für einen Superhelden: »Er hat die Wissenschaften (Logik, Metaphysik und Physik) vollendet, denn keiner seiner Nachfolger hat bis heute, das heißt während 15 Jahrhunderten, seinen Schriften etwas hinzufügen oder in ihnen einen bedeutenden Irrtum finden können.«
    Abendländische Forscher, die seinen Enthusiasmus teilten, begaben sich damit auf heikles Terrain: Wie ließen sich Lehren, die von antiken Heiden wie Aristoteles und Muslimen wie Averroes verkündet worden waren, überhaupt mit der christlichen Doktrin vereinbaren? Ging es um Grundsätzliches, empfanden Kirchenobere geradezu eine Pflicht, bösen Anfängen zu wehren: Schließlich waren die Märtyrer von Heiden umgebracht worden, und weiterhin kämpften Kreuzfahrerheere meist gegen Araber. Verkündete nun beispielsweise
ein Medizinexperte, der ausgerechnet an der römischen Kurie arbeitete, nach antiken Vorbildern: »Die Welt ist Gott«, dann widersprach das eklatant der Schöpfungslehre und untergrub so die kirchliche Autorität.
    1210 beschloss die Synode von Paris, Europas wichtigster und regster Universitätsstadt, dass weder die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles noch Kommentare dazu gelesen werden dürften, sowohl vom Hörsaalkatheder als auch privat. Wer es dennoch tue, werde exkommuniziert – keine leere Drohung zu einer Zeit, da man überall Ketzer witterte. Über Jahrzehnte hielt sich der Erlass, freilich eher auf dem Papier als in der Praxis. Denn längst war allen Klügeren klar: Ignorieren konnte man, was aus Arabien kam, allenfalls zum eigenen Schaden. Und 1255 vollzog sich dann, wiederum in Paris, die historische Kehrtwende: Fortan war das Aristoteles-Studium nicht bloß erlaubt, sondern zwingend vorgeschrieben.
    Jetzt konnten Koryphäen wieder arbeiten, zum Beispiel der große Kirchenlehrer Thomas von Aquin, der mit immenser Quellenkenntnis den Bau der Theologie von Grund auf neu zu errichten begann, aber auch der Oxforder Naturforscher und Philosoph Roger Bacon und andere. Von der Wissenschaftstheorie bis hin zu verästelten Fragen nach Wesen und Sein oder den feinen Unterschieden zwischen Seele, Geist und Intellekt begannen die Scholaren nun europaweit verblüffend offen zu disputieren.
    Um sich doch noch mit dem Klerus anzulegen, musste man schon sehr undiplomatisch sein wie der brillante Siger von Brabant. Er leugnete in seinen Aristoteles-Kommentaren entgegen aller Kirchenlehre die Vorsehung und den freien Willen – und wurde vor den Inquisitor zitiert. Die meisten übrigen Forscher studierten dankbar den Schatz von Einsichten aus der arabischen Welt, ließen sich oft zu eigenständigen
Thesen anregen und überwanden so fast unbemerkt den überkommenen Buch- und Autoritätenglauben.
    Wie weit dieser Weg führte, zeigt ausgerechnet ein Werk herber Analyse, geschrieben um 1460: Die »Sichtung des Korans« von Nikolaus von Kues. Gestützt auf die über 300 Jahre zuvor entstandene lateinische Standardübersetzung, nahm sich der als Kirchendiplomat weit herumgekommene Kardinal das Buch des Propheten Mohammed genauestens vor. So deutlich er sich von dem »gänzlich verworrenen« Opus aus Arabien distanzierte, so häufig fand er auch verständnisvolle Worte.
    »Moses beschrieb einen Weg« zu Gott, heißt es da beispielsweise; »Christus erleuchtete und vollendete ihn, und doch bleiben bis jetzt noch viele ungläubig. Mohammed bemühte sich, diesen Weg als leichteren zu beschreiben, damit alle, auch die Götzendiener, ihn annähmen« – was Nikolaus rundweg anerkennt. Führe der Koran dann in die Irre, geschehe das nicht böswillig, sondern nur durch Mohammeds »Unwissenheit«.
    Selbst den Bau des Buches, die eigentümlich abgeschlossene Gedichtform jeder Sure, nahm der christliche Denker ernst – noch ein Beleg dafür, wie viel Respekt er seinem Gegenstand zollte. Seit wenigen Jahren war Konstantinopel in osmanischer Hand; jetzt musste sich Europas Christentum auf seine Kernwerte besinnen. Aber ebenso ist in der Koran-Studie eine Hoffnung auf Verständnis zu spüren.
    Ohne Zutrauen zur Vernunft der jeweils anderen Seite kann es das nicht geben. Nikolaus von Kues, der die »coincidentia oppositorum«, die Einheit der Gegensätze, zum Leitwort seiner Philosophie gemacht hatte, baute auf die Kraft des Dialogs – auch weil er genau wusste, wie beschränkt sein Abendland ohne die umfassende geistige Infusion aus Arabien geblieben wäre.

Derwisch für Dänemark
    Wie sah der Jemen um die

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