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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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der Raum dahinter beträchtliche Ausmaße besaß. Ein Ballsaal, vielleicht. Niemand regte sich darin.
    Wir schlichen weiter, von Fenster zu Fenster. Die ersten acht gehörten alle zum selben Saal. Dann folgte ein Stück, auf dem man zwei weitere Fenster schon vor langer Zeit zugemauert hatte. Dahinter ging es um die Ecke. Entlang der Seitenwand, die eine beträchtliche Tiefe des Anwesens verriet, liefen wir zur Vorderseite. Kurz bevor wir sie erreichten verlangsamten wir unsere Schritte. Gut möglich, daß die Zusammenkunft in einem der vorderen Räume stattfand.
    Bevor wir um die Ecke traten, warf ich einen Blick auf den Waldrand. In der Finsternis war es unmöglich, den Einschnitt zu erkennen, durch den wir die Lichtung betreten hatten. Einen Augenblick lang kämpfte ich mit der beängstigenden Vorstellung, die unheimliche Wand aus Bäumen hätte sich hinter uns geschlossen wie die Reihen einer stillen, schwarzen Armee.
    Es ist nur die Nacht, redete ich mir ein, nur die Nacht; es ist zu dunkel, um die Schneise von hier aus zu sehen.
    Angelina berührte mich ungeduldig am Arm und gab mir ein Zeichen, mit ihr nach vorne zu schleichen. Das taten wir, und in der Tat: Da waren breite Lichtbahnen, die sich fächerförmig von einigen Fenstern aus über den Weg und die Balustrade ergossen. Ich atmete auf. Meine Besorgnis beim Verlöschen der Kerzen war unbegründet gewesen. Die Versammelten hatten sich lediglich in einen anderen Raum zurückgezogen.
    Wir blieben einen Moment lang stehen und lauschten. Das erste der erhellten Fenster lag noch einige Schritte entfernt. Noch war nichts zu hören.
    Weiter. Vorwärts bis zum Fenster. Dann ein vorsichtiger Blick hinein.
    Sieben Männer und Frauen saßen rund um eine Eichentafel inmitten eines hohen Saales. Der Tisch war riesig, so daß sich die Anwesenden in weiten Abständen darum verteilt hatten. Den Raum schmückten einst prachtvolle Wandmalereien, doch die meisten von ihnen waren zerfallen, die Farben abgeblättert. Schmutz und Staub lagen kniehoch in den Ecken, und von der Decke hatten sich Stücke der aufgesetzten Verzierungen gelöst und waren zu Boden gestürzt. Im Schein zahlloser Kerzen sah ich nun auch, daß gleich zwei der sechs Fenster zerbrochen waren. Das würde es erleichtern, dem Gespräch im Inneren zu lauschen.
    Es waren vier Männer, einer davon Faustus, dazu drei Frauen. Die Gruppe hätte in ihrer Mischung aus sonderbaren Charakteren keinen seltsameren, keinen gegensätzlicheren Eindruck erwecken können. Nun verstand ich, was Faustus gemeint hatte, als er sagte, diese Leute seien keine Freunde. Wer sie vor sich sah, der konnte daran nicht einen Augenblick zweifeln. Schon der erste Eindruck verriet, daß es keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab.
    Zur Rechten meines Meisters saß ein kleiner schmaler Mann mit grauer, ledriger Gesichtshaut. Seine dürren Finger zitterten unruhig wie Weberknechte über die Tischplatte. Seine Nase war so fein und scharfgeschnitten, daß sie von vorne kaum zu erkennen war. Überhaupt schien sein ganzes Gesicht nicht breiter als mein Oberarm, als hätte man es ihm als Kind von beiden Seiten zusammengeschoben. Diese puppenhafte Verzerrung setzte sich über seinen Oberkörper fort. Ich konnte mir vorstellen, wie zerbrechlich seine Beine waren, obgleich sie sich im Moment unter dem Tisch verbargen. Ich hatte bislang geglaubt, Faustus sei an Knöchrigkeit und Dürre kaum zu übertreffen, doch hier fand ich den lebenden Gegenbeweis.
    Links von meinem Meister saß eine alte Frau in der Tracht einer Nonne. Sie trug eine breite, weiße Haube, die allerdings mit allerlei Mustern aus rotem Faden bestickt war. Ähnliches hatte ich bei anderen Töchtern Gottes nie bemerkt, und es schien mir ein Anzeichen dafür, daß es sich hier um keine gewöhnliche Nonne handelte. Ihr Gesicht besaß ebenfalls kaum Farbe, wirkte aber nicht so verhärmt wie das des Knochenmannes.
    Die drei, die Faustus an der anderen Längsseite des Tisches gegenübersaßen, konnte ich nur von hinten sehen. Eine von ihnen war eine Frau mit aufgetürmten weißen Haarfontänen, die sich nach oben hin zu einer Spitze verjüngten, was ihre Haarpracht wie eine Mütze erscheinen ließ. Ich bezweifelte, daß sie damit durch die Tür des Saales gehen konnte, ohne sich zu bücken.
    Die beiden Männer neben ihr vermochte ich noch nicht zu erkennen, deshalb will ich sie später vorstellen.
    Am Kopfende der Tafel hockte eine Monstrosität von Frau, fett wie fünf Schweine, mit den

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