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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Krallen zu erkennen. Und die tückische Glut in ihren Augen.
    Die scharfen Hornklingen rissen Striemen über Angelinas Handrücken. Mit einem Mal war Blut an ihren Fingern.
    Das Tier kreischte noch immer. Dann sprang es Angelina direkt ins Gesicht.
    Ich schrie auf. Angelina entfuhr ein entsetztes Stöhnen, dann taumelte sie. Ihre Hände griffen nach dem Kamin, doch der Schwung der Katze hatte sie bereits nach hinten geworfen. Sie taumelte wie ein Betrunkener. Das Tier krallte sich an ihren Kopf und bedeckte ihre Züge wie eine Maske aus schwarzem Fell.
    Es gelang Angelina noch, einen weiteren Schritt nach hinten zu machen, dann rutschten ihre Füße auf dem Moos ab. Sie schlug mit dem Rücken auf die Dachziegeln und glitt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die Schräge hinab.
    Genau auf mich zu.
    Ohne nachzudenken, riß ich beide Arme aus der Öffnung. Die Fackel flog in weitem Bogen in die Tiefe.
    Angelina kam näher, rasend schnell, dann packte ich sie. Die Wucht des Aufpralls riß mir fast die Arme aus den Gelenken. Die Finger meiner Rechten krallten sich in weichen Stoff, mit der Linken umfaßte ich ihre Hand. Sie rutschte weiter. Das Hemd riß auf, und plötzlich hielt ich sie nur noch am Arm. Lang ausgestreckt hing sie unter mir auf der Schräge. Ihre Füße und Waden ragten über den Rand des Daches hinaus und strampelten im Nichts.
    Der Schmerz in meinen Armen war stechend, aber nicht unerträglich. Ich hielt sie fest. Sie würde nicht mehr stürzen.
    Da löste sich die Katze mit einem bösen Fauchen von Angelinas Kopf und sprang auf mich zu. Ich riß mein Gesicht zur Seite. Vor Schreck hätte ich das Mädchen fast losgelassen. Die Katze schoß um Haaresbreite an mir vorbei und verschwand durch die Öffnung im Inneren des Speichers.
    Mühsam zerrte ich Angelina nach oben und zog sie durch das Loch in Sicherheit. Eine Weile lang blieben wir schweratmend auf dem Dachboden liegen, inmitten von Staub und Schmutz. Ihr Hemd war völlig zerrissen. Ich hatte sie zahllose Male nackt gesehen, während Faustus und ich ihre Wunden pflegten. Und doch war es in diesem Moment etwas anderes, ein Stück ihrer glatten, hellen Haut zu sehen, schimmernd im schneeweißen Mondlicht.
    Plötzlich drehte sie sich zu mir um. Ihr erstarrtes Gesicht rührte sich nicht. Ich schwöre, daß sie mit den Augen lächelte. Mit ihren klaren, sanften Augen.
    Dann beugte sie sich herüber und preßte ihre Lippen auf meinen Mund. Nur einen Herzschlag lang.
    Ehe ich etwas sagen, nur etwas denken konnte, war sie schon aufgesprungen. Sie bewegte sich, als sei nichts geschehen.
    Ich wollte ihr etwas zuflüstern, doch da war sie bereits an der Luke und glitt hinab ins Haus.
    Ich konnte sie nicht um eine Erklärung bitten, und das war wohl das Schlimmste. Weder erfuhr ich, warum sie ihr Leben für eine Katze aufs Spiel gesetzt noch konnte sie mir verraten, weshalb sie mich geküßt hatte.
    Ich empfand keinen Widerwillen bei dem Gedanken an ihren Kuß. Es war merkwürdig. Ihr Gesicht war entstellt, so schlimm, wie man einen Menschen nur entstellen konnte. Und doch war etwas an ihr, das mich ungemein anzog. Nicht ihr schlanker Wuchs, nicht ihre weiche Haut (und sicher nicht ihr Wortwitz). Ich bin nicht sicher, was es war. Selbst heute nicht.
    Sie zog ein anderes Hemd über, und damit war die Sache für sie überstanden. Ich ertappte mich dabei, daß ich ihre Stärke und Zähigkeit bewunderte. Fraglos beneidete ich sie ein wenig darum. Doch welche Entbehrungen hatte sie auf sich nehmen müssen, um sich so unter Kontrolle zu halten? Die Antwort darauf erwartete uns in Rom. Hoffentlich.
    Trotz allem aber schien sie mir nachdenklich. Etwas hatte sie tief berührt. Daß ich ihr Leben gerettet hatte? Nun, sie hatte dasselbe schon für mich getan.
    Um uns abzulenken, sagte ich: »Vielleicht sollten wir doch nachsehen, wie es Faustus ergangen ist. Ich mache mir Sorgen.«
    Meine Furcht vor den Schlangen war unverändert groß, doch was sonst blieb uns zu tun? Ich hatte das Warten und Ausharren auf den väterlichen Ratschluß meines Meisters satt. Obwohl meine Arme noch immer schmerzten, und die eine oder andere Wunde wie Feuer brannte, spürte ich neuen Mut. Wir hatten eine Gefahr überstanden, warum nicht auch alle anderen?
    (Natürlich könnt Ihr, allzu logischer Leser, dies nicht verstehen. Doch wenn Ihr einmal selbst in meine Lage kommt, so werdet Ihr feststellen, daß ein bestandenes Abenteuer, ein bewältigter Kampf oder schlichtweg eine Sorge weniger zu

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