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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Gesichtszügen einer Wasserleiche. Augen und Mund waren kaum mehr als Schlitze in den fleischigen Buckeln ihrer Wangen. Ihr ganzer Leib thronte wie eine menschliche Pyramide auf einer Art gigantischem Tablett. Jenes wiederum ruhte auf vier Stühlen, die man rundherum daruntergeschoben hatte. Falls sie Beine und Füße besaß, so waren sie unter den Massen ihres Körpers verborgen. Ihre ganze Gestalt wirkte, als habe jemand versucht, aus einem großen Klumpen Lehm einen Menschen zu formen, dabei aber nach den ersten Bemühungen aufgegeben. Sie schien so formlos und unfertig wie massig, und es fiel schwer, ein menschliches Wesen in ihr zu sehen. Was dort kauerte, war vielmehr ein bebender Berg aus Fleisch. Wie ich später erfuhr, hieß sie Ariane von Lunderbusch, und selten wurde der Wohlklang eines Namens vom Äußeren seiner Trägerin so Lügen gestraft.
    Eine Kreatur habe ich in meinen Betrachtungen bislang übersehen; ich sage »Kreatur«, weil es sich dabei eindeutig nicht um einen Menschen handelte. Am Ende einer Kette, die irgendwo in der Fleischmasse Arianes verschwand, saß ein Wesen, wie ich es nie zuvor erblickt hatte. Es besaß die Gestalt eines ungemein kräftigen Mannes, wenn auch gekrümmt und mit überlangen Armen und Fingern. Sein Leib aber war über und über mit Fell bedeckt. Schlimmer noch erschien mir sein Gesicht, eine schwarzhäutige Teufelsfratze mit vorgewölbter Mundpartie. Das Wesen rollte die Lippen vor und zurück und entblößte scharfe Raubtierhauer. Später erst erfuhr ich, daß es sich um ein Tier aus den fernen Ländern im Süden handelte. Faustus nannte es »Orang-Utan«.
    Man kann sich zweifellos mein Entsetzen im Angesicht dieser grunzenden Obszönität vorstellen.
    Mir war höchst erleichtert ums Herz, als ich feststellte, daß andere offenbar ebensowenig Gefallen an der Bestie fanden wie ich. Der schmale Mann neben Faustus musterte die Kreatur mit Widerwillen und sagte: »Es ist abscheulich von dir, Ariane, deinen Gespielen mit zu dieser Zusammenkunft zu bringen. Wo immer du ihn auch her hast, mein Rat ist, ihn zurückzuschaffen.«
    Der Fleischberg Ariane öffnete vor Empörung den Mundschlitz innerhalb ihres klobigen Gesichts, sagte aber vorerst nichts. Erst als der Knochenmann nachsetzen wollte, erklärte sie mit heller Fistelstimme: »Sisyphos ist nicht mein Gespiele, Adelfons Braumeister.« Der Name des Knochenmannes klang aus ihrem Mund wie eine Beleidigung, so zäh und betont sprach sie ihn aus. »Sisyphos ist mein Träger und Diener. Zudem bin ich nicht die einzige, die ihre Bediensteten mitgebracht hat – oder ihre Gespielen, nicht wahr, Nicholas?«
    Einer der beiden Männer, die uns den Rücken zuwandten, sprang entrüstet von seinem Stuhl. Drohend lehnte er sich mit dem Oberkörper über die Tischkante und schob sich auf Ariane von Lunderbusch zu. »Die beiden Mädchen sind meine Töchter.«
    Ariane verzog das Gesicht. »Ganz entzückende Zwillinge, in der Tat. Doch weshalb schlafen sie in deinem Bett, mein Bester? Frierst du des Nachts? Soll ich dich wärmen?«
    Nicholas ließ sich angewidert zurück auf seinen Stuhl fallen. Er hatte graues, abstehendes Haar, war äußerst untersetzt und hielt sich gebeugt, fast bucklig. »Ich würde an deinem Busen ersticken, Ariane.«
    »Du wärest nicht der erste«, versetzte sie eilfertig. Ihre Wangen bebten vor Vergnügen über den Schlagabtausch.
    »War das ein Lächeln?« fragte Nicholas bösartig. »Du versprühst die Reize eines Mastschweins, meine Liebe.« Daraufhin lachte er schallend. Er blieb der einzige.
    »Das Lächeln ist das legitime Kind des Glücks«, erwiderte Ariane ungerührt, »das Gelächter aber der Bastard des Wahnsinns.«
    Das letzte Wort schien den Grauhaarigen besonders zu treffen, doch ehe er protestieren konnte, meldete sich die seltsame Nonne zu Wort:
    »Hört auf damit!« verlangte sie scharf. »Ariane ist dir mit Worten überlegen, Nicholas, du mußt nicht auch noch den Beweis dafür antreten. Und was die beiden Kinder in deiner Kammer angeht, so wüßte ich gerne, wer ihre Mutter ist.«
    »Das geht dich nicht das geringste an, Schwester Walpurga«, entgegnete Nicholas.
    Ich begriff jetzt, daß Walpurga keine wirkliche Nonne war. Sie mochte einst in Gottes Diensten gestanden haben, doch es war mehr als deutlich, daß diese Zeiten vorüber waren. Bei näherem Hinsehen erkannte ich die Stickereien auf ihrer Tracht als kabbalistische Zeichen. Eine Hexe!
    Zum ersten Mal, seit wir unser Versteck vor dem

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