Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Faustus. Und auch vor ihm.
    Er trat hinaus auf den Flur und ging. Nachdenklich blieben Angelina und ich zurück. Zu gerne hätte ich gewußt, was sie in diesem Augenblick empfand. Faustus und sie hatten sich gegenseitig das Leben gerettet, und doch verband sie kein solches Band mit ihm wie mich. Ich verehrte ihn zutiefst, für das, was er war, für das, was er wußte. Er war kein Mensch wie jeder andere. Um so mehr erschreckte mich nun, daß auch er einer allzu menschlichen Gier erlag. Mochte er sich noch so oft auf die Magie der Krone berufen; letztlich war es ein Wert wie jeder andere, ob man ihn nun in Gewicht oder Zauberkraft maß.
    Wir hoben unsere Fackeln auf und liefen durch die Dunkelheit zur Außentür. Auf dem Weg zum Gästehaus wichen wir mehrfach geringelten Schlangenleibern aus. Es schien fast, als versammelten sie sich in den Gärten rund um das Schloß.
    Als wir das Gebäude betraten, kam mir mit einem Mal ein Gedanke: Gwen wußte noch nicht, was geschehen war.
    Ihre Herrin war tot, und sie wußte es nicht!
    Jemand mußte es ihr sagen, und von uns beiden kam nur einer in Frage.
    Kleinlaut schlich ich die Treppe hinauf. Erst am oberen Absatz wurde mir bewußt, daß Angelina meine Hand hielt.
     
    ***
     
    Gwen war verschwunden. Sie hielt sich in keinem der Zimmer auf und auch nicht auf dem Speicher. Nirgends war eine Spur von ihr zu entdecken, sogar ihr Bündel war fort. Ich rief ihren Namen, erst leise, dann immer lauter, doch selbst als wir die Umgebung des Hauses erforschten, gab es keinen Hinweis auf ihr Schicksal. Ich konnte nicht glauben, daß sie fortgegangen war, obgleich sie keinen Hehl daraus gemacht hatte, wie sehr sie das Schloß und den Traumvater fürchtete.
    War es möglich, daß sie doch vom Mord an Delphine erfahren hatte? Immerhin ging sie bei einer Hellseherin in die Lehre. Vielleicht hatte sie danach ihre Sachen gepackt und war auf dem schnellsten Wege geflohen.
    Meine innere Stimme schalt mich einen Narren. Gwen hatte viel zu große Angst gehabt, um allein einen Weg aus dem Wald zu suchen. Der Traumvater konnte überall auf sie lauern, nicht nur im Schloß.
    Dabei fiel mir ein, daß ich völlig vergessen hatte, Faustus nach dem Mann auf der Gondel zu fragen. Die Antwort mußte nun bis später warten.
    Es war bereits Abend, als wir unsere Suche aufgaben und beschlossen, uns schlafen zu legen. Vielleicht würde Gwen nach Einbruch der Dunkelheit von sich aus zurückkehren. Möglicherweise suchte ich nur einen Vorwand, um nicht länger dort draußen herumzuirren.
    Ich lag lange wach in dieser Nacht und horchte auf Angelinas Atem. Sie lag einen Schritt von mir entfernt unter ihrer Decke, eingerollt, das verbrannte Gesicht in die andere Richtung gewandt. Ich wußte, daß sie in fast jeder Nacht von Alpträumen heimgesucht wurde, spürte es an ihrer Unruhe, an ihren Bewegungen im Schlaf. Manchmal schien es fast, als versuche sie zu sprechen, aber nicht mehr als ein heiseres Stöhnen entrang sich ihren Lippen. Sie zeigte niemandem, was sie wirklich empfand, und doch war mir klar, wie sehr sie litt. Sie mochte von den vatikanischen Lehrmeistern in einem Geiste erzogen worden sein, der Schönheit keine Bedeutung beimaß, doch selbst sie hatten Angelina nicht auf solch ein Schicksal vorbereitet. Ihre Schmerzen mochten weitgehend vergangen sein, doch jeder Blick in einen Spiegel, in ein stilles Wasser oder nur in die Augen eines Menschen, der sie zum ersten Male sah, mußte ihr zeigen, welche Wunden das Feuer ihr tatsächlich zugefügt hatte.
    Ihr zierlicher Körper zeichnete sich sanft unter der Decke ab. Ich wußte wohl, daß sie im Schlaf keine Kleidung trug. Sie hatte von Anfang an keinerlei Scheu gezeigt, sich vor mir oder Faustus auszuziehen; sie wußte, daß wir tagelang ihre Wunden gepflegt hatten und mit ihrer Nacktheit vertraut waren. Bis vor einer oder zwei Wochen hatte ich in der Tat nichts dabei gespürt, wenn sie ihren Leib vor dem Schlafengehen enthüllte. Es war eine Verbindung wie Bruder und Schwester gewesen, nicht wie die zweier Liebender. Und doch fragte ich mich immer öfter, was es wirklich war, das ich für sie fühlte. Verband uns wirklich nur die Nähe zweier Geschwister? Warum aber verwirrte mich dann der Anblick ihres Körpers so sehr?
    Wieder drängte sich mir die Frage auf, was sie oben auf dem Speicher zu jenem Kuß getrieben hatte. War es nur eine plötzliche Regung gewesen? Oder steckte mehr dahinter? Durfte ich auf ihre Liebe hoffen? Und wollte ich das

Weitere Kostenlose Bücher