Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
Schatten wuchsen turmhoch an der Fassade empor, schwarze Ungeheuer auf dem rotgelben Feuerschein.
Hinter Faustus traten wir durch eine doppelflügelige Tür ins Innere. Das unirdische Licht fiel durch die Fenster und tanzte formlos durch Kammern und Säle. Niemand erwartete uns. Kein Mensch war zu sehen.
»Wo sind sie?« fragte ich.
»Sie haben sich in ihren Zimmern eingeschlossen«, erwiderte Faustus grimmig. »Sie alle haben Angst, zu recht, wie mir scheint.«
Während der Nachhall solch erbaulicher Worte noch durch meinen Schädel schallte, stiegen wir mit Faustus die Treppen hinauf bis in den zweiten Stock. Dort traten wir auf einen verlassenen Flur, der sich fensterlos und dunkel nach rechts und links erstreckte. Faustus bog linker Hand ein und führte uns bis zum Ende des Gangs.
»Dies ist mein Zimmer«, erklärte er und deutete auf die hintere Tür. »Ihr habt den Rest des gesamten Stockwerks für euch, wenn ihr wollt. Außer mir hat nur Delphine hier gewohnt. Die übrigen haben es vorgezogen, sich unter uns zusammenzurotten. Diese Narren glauben, gemeinsam seien sie dem Mörder überlegen.«
Angelina wirkte nicht glücklich, und auch mir war keineswegs erleichtert zumute. Fürs erste mochten wir sicher sein. Doch wie lange? Bis zum Morgen? Oder gar den ganzen Tag? Ich spürte, daß Faustus recht hatte: Es würde weitere Opfer geben. Es bedurfte keiner Hellseherin wie Delphine, um zu spüren, daß der Tod durch die Flure und Säle schlich. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe er erneut zuschlagen würde.
Faustus deutete auf die Tür des Nebenzimmers. Sie war fast zehn Schritte von der seinen entfernt, was auf die enorme Größe der Räume schließen ließ.
»Nehmt dieses Zimmer«, sagte er. »Es gibt keine Verbindungstür zu meinem, doch die Wände sind dünner, als sie scheinen. Ruft mich, wenn ihr Hilfe braucht.«
Wir hatten oft genug zu dritt in einem Raum geschlafen oder nah beieinander im Freien gelegen, deshalb verwunderte mich, daß er in einer solchen Lage auf zwei getrennten Zimmern bestand. Ich fragte mich erneut, welches Spiel Faustus spielte. Wessen Spiel.
Er zog sich in seine Kammer zurück, und Angelina und ich betraten die unsere. Es war in der Tat ein gewaltiger Raum, an dessen Stirnseite ein überdachtes Himmelbett stand. Während die Vorhänge an den Fenstern zerfressen und verschlissen waren, wirkten die Decken auf dem Bett leidlich sauber. Es gab sogar zwei Kissen. Eines hatte ein Loch; weiße Federn bedeckten das Kopfende wie Schneeflocken.
Weiterhin standen im Raum ein hoher Schrank, eine Kommode und darauf eine Wasserschüssel. Der Boden war aus Parkett, an den Wänden hingen verblassende Teppiche. Es gab zwei Fenster, aus denen man mit etwas Mühe den zerfallenen Schloßturm an der Seite des Gemäuers erkennen konnte. Faustus’ Zimmer, das auf der Ecke lag, mußte direkt an ihn grenzen.
Galant wählte ich jene Seite des Bettes aus, auf der das beschädigte Kissen lag, und überließ Angelina die andere. Sie würde es kaum zu schätzen wissen. Wer ahnte schon, mit welchen Lagern sie dreizehn Jahre lang in den Tiefen des Vatikans vorliebnehmen mußte? Angelina schien immer mit allem zufrieden.
Bis zum Morgengrauen war es noch eine ganze Weile, und es gelang uns beiden, ein wenig Schlaf zu finden. Trotzdem starrte ich noch lange hinauf zur Decke. Das Feuer führte dort ein wogendes Schattenspiel auf. Die Dunkelheit floh vor dem Licht mit den Windungen schwarzer Schlangenleiber.
Kapitel 4
»Wo ist Sisyphos? Hat jemand Sisyphos gesehen?«
Arianes Keifen schwirrte als bebender Hall durch den Saal und schien kein Ende zu finden. Sie hockte auf dem Fußboden wie ein aufgequollener Haufen Unrat, schwitzend, zitternd, während ihr Rotz und Tränen übers Gesicht liefen.
»Wo ist Sisyphos?« schrie sie erneut. Weder der Affe noch die silberne Plattform, auf der sie sich für gewöhnlich umhertragen ließ, waren zu sehen. Sie mußte sich, unglaublich aber wahr, auf eigenen Füßen hierherbegeben haben. Zum ersten Mal sah ich nun ihre Beine. Sie waren kurz und verkrüppelt und ragten wie nutzlose Anhängsel unter der Fülle ihres Leib hervor. Zwei Krücken, die sie sich beim Gehen unter die Achseln schob, lagen achtlos neben ihr.
»Und wo ist dieser verfluchte Braumeister?« rief sie, während einige der Anwesenden hilflos, andere angewidert dreinblickten.
»Adelfons Braumeister!« kreischte Ariane hinauf zur Decke. »Wo bist du Schwein, du Mörder?« Das letzte Wort zog sie
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