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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Schritten, fragte ich ihn flüsternd: »Woran arbeitet Ihr zur Zeit, Meister Jheronimus?«
    »Kommt mich in meinem Zimmer besuchen, wenn Ihr mögt«, raunte er zurück. »Dann zeige ich Euch, was ich male.«
    Ich entschloß mich, meine wichtigste Frage nicht länger zurückzuhalten. »Meister, gestern sah ich Euch, als Ihr aus der Gruft heraufkamt. Mir schien, daß Ihr Delphines Blut genauer untersucht habt.«
    Er zuckte unmerklich zusammen, dann aber gab er ein schnarrendes Kichern von sich. »Ich wollte wissen, ob ihr Blut als Farbe taugt.«
    »Als Farbe?« fragte ich, teils wißbegierig, teils erschrocken.
    »Jawohl«, erwiderte er. »Ich kehrte später zurück und verdünnte ihr Blut, bis es sich auf der Leinwand verarbeiten ließ. Delphine ist nun Teil meines neuen Gemäldes.«
    »Ihr malt mit Ihrem Blut?«
    »Könnte es einem höheren Zweck als dem der Kunst und Schönheit dienen?«
    »Aber –«
    Er unterbrach mich. »Ihr fürchtet um die Moral, um den christlichen Anstand, nicht wahr? Doch ohne Näheres über Eure Ausbildung in Faustus’ Diensten zu wissen, müßte es mich doch wundern, wenn Ihr selbst nicht schon an Schlimmerem teilgehabt habt.«
    »Faustus tut das, was er tut, im Dienste der Menschheit«, entgegnete ich, empört über den gewagten Vergleich.
    »Dann müßte ich mich zeitlebens sehr in ihm getäuscht haben«, sagte Bosch beinahe höhnisch. »Ich glaubte immer, er tut es vor allem im Dienste seines Geldbeutels.«
    »Er heilt Menschen.«
    »Und er betrügt sie.«
    »Ohne ihnen aber wirklich zu schaden.«
    »Ihr glaubt also, meine Malerei mit Delphines Blut habe ihr geschadet? Einer Toten? Verzeiht, aber diesem Standpunkt kann ich nicht folgen.«
    Ich erinnerte mich an den Gehängten, den ich auf Faustus’ Gebot hin vom Baum schneiden mußte, nur damit er ihn zerlegen konnte. Gegen Vorhaltungen hätte Faustus sicher ähnlich argumentiert: Er ist tot, und er kommt einem höheren Nutzen zugute.
    Doch war auch die Kunst ein höherer Nutzen?
    Ich schwieg, während ich über diese Frage nachsann und zugleich nach Spuren der Verschwundenen Ausschau hielt. Der Gang führte an zwei Dutzend kleinen Kammern vorüber, viele mit schräger Decke. Das Dach über unseren Köpfen war von Spitzen und Türmen beherrscht, ein ständiges Auf und Ab aus Schindeln und Schieferplatten.
    Gelegentlich kamen wir an Zugängen zu schmalen Wendeltreppen vorbei, die meisten nur wenige Stufen hoch, bevor sie blind und scheinbar sinnlos vor blanken Mauern oder unter Dachbalken endeten. Ein anderes Mal entdeckten wir einen ummauerten Schacht, der wie ein Brunnen in einen lichtlosen Abgrund führte, durch sämtliche Stockwerke hindurch und wer-weiß-wie-tief ins Erdreich. Ich wagte nicht, einen Stein hinabzuwerfen, aus Angst vor dem, was ich wecken mochte.
    In einigen Kammern standen verrottete Betten und Stühle. Einst mußten dies Räume der Dienerschaft gewesen sein, ähnlich den Zimmern im Sockel des Gemäuers. Die Decken der meisten Kammern und Flure waren nicht abgehangen; statt dessen thronte über ihnen das beängstigende Gewirr der Balken und Bohlen, viele von Schimmel und Holzwurm befallen, trotz der Trockenheit. Staub bedeckte den Boden und die wenigen Möbelstücke wie farblose Blütenpollen. Bei jedem unserer Schritte stoben kleine Wolken auf. Fremde Fußabdrücke waren nirgends zu sehen, nur unsere und die der Katze.
    Wir hatten gerade das Ende des langgestreckten Hauptkorridors erreicht, als in weiter Ferne hinter uns ein Licht aufflammte. Jemand war am Eingang des Dachbodens.
    »Wagner! Bosch!« rief eine Stimme, die meinem Meister gehörte, wie ich unschwer bemerkte. »Kommt schnell! In den Ruinen des Gästehauses liegt eine Leiche.«
    Wir liefen los, wobei ich mich zurückhielt, aus Rücksicht auf den Alten. Mit einem Mal schienen die Schrecken des Speichers gering im Vergleich zur Aussicht auf einen weiteren Toten.
    Als wir die Treppe hinabstürmten, traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht. Eine furchtbare Ahnung bemächtigte sich meiner.
    War Gwen in der Nacht noch zurückgekehrt? Hatte sie schlafend auf dem Speicher des Gästehauses gelegen, als das Feuer ausbrach?
    Hatte Delphines Schicksal auch ihre Schülerin ereilt?
     
    ***
     
    Das Gerippe lag inmitten schwarzer Haufen aus Schmutz und Asche. Der obere Teil des Gästehauses war in sich zusammengebrochen und hatte das Erdgeschoß unter sich begraben. Aus verkohlten Steinhügeln stachen Mauerreste und verbrannte Balken. Daß die zerstörten

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